Es bleibt die Erinnerung an Lebensfreude
Wie ist das, von einem geliebten Menschen Abschied nehmen zu müssen? Die SZ spricht mit Angehörigen und Freunden und stellt in einer Serie Lebenswege Verstorbener vor. Heute: Ingrid T. aus Saarbrücken.
SAARBRÜCKEN Drei, vier Fotos, ein aufgehobener Personalausweis. Alles, was bleibt? „Das darf nicht sein. So ein Leben hat mehr Beachtung verdient“, dachte sich Ulrike Graf. Und brachte Ingrid T. (Nachname ist der Redaktion bekannt) ins Gespräch für die „Lebenswege-Serie“. „Nur Erinnerungen machen eine Biographie aus. Sie bleiben bestehen, wenn ein Mensch nicht mehr da ist“, sagt man.
In diesem Fall hier ist das nicht so einfach. Wenn jemand Ingrid T. gut gekannt hat, wenn jemand die Erinnerungen in diesem Sinne hochhalten möchte, dann ist das Ulrike Graf. Sie übernahm als damals 19-jährige Erzieherin im damaligen Wohnheim für geistig Behinderte der Arbeiterwohlfahrt Saar (Awo) in Dillingen die Betreuung, also die rechtliche Vertretung, der nur knapp zwei Jahre jüngeren Ingrid, geboren 1969 in Saarbrücken, lediglich 1,45 Meter groß mit wunderschönen langen roten Haaren, betroffen von Trisomie 21 (siehe Info), fehlte der familiäre Rückhalt: „Sie wurde im Alter von 15 Jahren im Wohnheim abgegeben. Eine Familie in diesem Sinne kannte sie zumindest ab diesem Zeitpunkt nicht mehr“, sagt Graf.
Trotz der eher ungünstigen Ausgangslage entwickelte sich Ingrid zu einer lebensfrohen, freundlichen jungen Frau. „Musik, Disco, tanzen, singen, shoppen gehen, das war ihr Leben“. schildert die ehemalige Betreuerin heute.
Ingrid besuchte die angegliederte Förderschule für geistig Behinderte, lebte in der Wohngruppe, arbeitete später in der „Beschützenden Werkstatt“. Mit den Jahren wandelte sich die Pädagogik vom reinen Versorgungssystem dergestalt, dass den Bewohnern mehr Eigenverantwortung zugebilligt wurde. Graf, die während ihres Studiums der Sozialarbeit die junge Frau drei Jahre lang von Köln aus betreut hat, nahm in dieser Zeit positiv wahr, „... dass die Ingrid in diesem Wohngruppen-Versorgungssystem mit Schule und Werkstatt immer mehr Selbstständigkeit entwickelt hat“. Schöne Jahre im Prinzip, in denen Betreute wie Betreuerin sich immer wieder ganze Nachmittage gönnten für gemeinsame Einkaufsbummel, Schwimmbadbesuche, zum Tanzen und Singen. „Besonders der Dieter Thomas Heck hat es der Ingrid angetan. Bei dessen Hitparade konnte sie stundenlang mitsingen.“In der Außenwohngruppe der Awo hatte Ingrid ihr eigenes Zimmer. Sie hat dort einen Freund gefunden, der im Nebenzimmer lebte. Sie fühlte sich wohl, war glücklich. Graf: „Wie in jeder anderen Beziehung hat es auch mal geknallt, war die Ingrid auch mal müde oder einfach nur schlecht gelaunt. In diesen Phasen konnte sie auch ganz schön stur sein. Das hat sich meist aber auch wieder schnell gelegt.“Dann, vor wenigen Jahren, war die Entwicklung der noch jungen Frau plötzlich rückläufig. „Hat man öfter bei Menschen, die von Trisomie 21 betroffen sind. Diese haben in der Regel keine hohe Lebenserwartung“, erklärt die Sozialarbeiterin Graf.
Wie auch immer: Ingrids Verhalten änderte sich. Die Beziehung zu den Mitbewohnern in der Außenwohngruppe, insbesondere zu ihrem Partner, gestaltete sich schwieriger, sie wurde zusehends teilnahms- und antriebsloser, bekannte Wege erschienen ihr fremd. Ärzte vermuteten eine beginnende Demenz. Eine neue Bleibe musste gefunden werden, ein Altenheim in Saarbrücken. Ihre Befindlichkeit verschlechterte sich weiterhin. Schließlich diagnostizierte man im Krankenhaus Krebs im Endstadium. Ingrid wurde zurückverlegt in ihr Zimmer im Altersheim.
„Bei meinem letzten Besuch war sie so klar wie nie zuvor. Sie hat sich von mir verabschiedet. Danach habe ich sie nur noch sediert erlebt“, sagt die Betreuerin. Nach ihrem frühen Tod mit 47 Jahren im Herbst des Jahres 2016, in der nun notwendig gewordenen sogenannten gesetzlichen Abwicklung wurden Ingrids leiblicher Bruder sowie eine Schwester gefunden. Auf dem Waldfriedhof in Saarbrücken wurde Ingrid T. beerdigt, in einem Sammelgrab, in welchem zwei Jahre zuvor ihre Mutter beerdigt worden war. „Ihre Gruppe aus Dillingen kam zur Beerdigung im ganz kleinen Kreis“, sagt die Betreuerin.
Was bleibt? „Die Erinnerung an einen lebensfrohen Menschen, eine Freundin, die ihr Leben trotz aller Schwierigkeiten letztendlich gemeistert hat“, schließt Ulrike Graf.
Auf der Seite „Momente“stellt die SZ im Wechsel Kirchen und Lebenswege Verstorbener vor. Online unter saarbruecker-zeitung.de/lebenswege