Saarbruecker Zeitung

Es bleibt die Erinnerung an Lebensfreu­de

Wie ist das, von einem geliebten Menschen Abschied nehmen zu müssen? Die SZ spricht mit Angehörige­n und Freunden und stellt in einer Serie Lebenswege Verstorben­er vor. Heute: Ingrid T. aus Saarbrücke­n.

- VON WALTER FAAS

SAARBRÜCKE­N Drei, vier Fotos, ein aufgehoben­er Personalau­sweis. Alles, was bleibt? „Das darf nicht sein. So ein Leben hat mehr Beachtung verdient“, dachte sich Ulrike Graf. Und brachte Ingrid T. (Nachname ist der Redaktion bekannt) ins Gespräch für die „Lebenswege-Serie“. „Nur Erinnerung­en machen eine Biographie aus. Sie bleiben bestehen, wenn ein Mensch nicht mehr da ist“, sagt man.

In diesem Fall hier ist das nicht so einfach. Wenn jemand Ingrid T. gut gekannt hat, wenn jemand die Erinnerung­en in diesem Sinne hochhalten möchte, dann ist das Ulrike Graf. Sie übernahm als damals 19-jährige Erzieherin im damaligen Wohnheim für geistig Behinderte der Arbeiterwo­hlfahrt Saar (Awo) in Dillingen die Betreuung, also die rechtliche Vertretung, der nur knapp zwei Jahre jüngeren Ingrid, geboren 1969 in Saarbrücke­n, lediglich 1,45 Meter groß mit wunderschö­nen langen roten Haaren, betroffen von Trisomie 21 (siehe Info), fehlte der familiäre Rückhalt: „Sie wurde im Alter von 15 Jahren im Wohnheim abgegeben. Eine Familie in diesem Sinne kannte sie zumindest ab diesem Zeitpunkt nicht mehr“, sagt Graf.

Trotz der eher ungünstige­n Ausgangsla­ge entwickelt­e sich Ingrid zu einer lebensfroh­en, freundlich­en jungen Frau. „Musik, Disco, tanzen, singen, shoppen gehen, das war ihr Leben“. schildert die ehemalige Betreuerin heute.

Ingrid besuchte die angegliede­rte Förderschu­le für geistig Behinderte, lebte in der Wohngruppe, arbeitete später in der „Beschützen­den Werkstatt“. Mit den Jahren wandelte sich die Pädagogik vom reinen Versorgung­ssystem dergestalt, dass den Bewohnern mehr Eigenveran­twortung zugebillig­t wurde. Graf, die während ihres Studiums der Sozialarbe­it die junge Frau drei Jahre lang von Köln aus betreut hat, nahm in dieser Zeit positiv wahr, „... dass die Ingrid in diesem Wohngruppe­n-Versorgung­ssystem mit Schule und Werkstatt immer mehr Selbststän­digkeit entwickelt hat“. Schöne Jahre im Prinzip, in denen Betreute wie Betreuerin sich immer wieder ganze Nachmittag­e gönnten für gemeinsame Einkaufsbu­mmel, Schwimmbad­besuche, zum Tanzen und Singen. „Besonders der Dieter Thomas Heck hat es der Ingrid angetan. Bei dessen Hitparade konnte sie stundenlan­g mitsingen.“In der Außenwohng­ruppe der Awo hatte Ingrid ihr eigenes Zimmer. Sie hat dort einen Freund gefunden, der im Nebenzimme­r lebte. Sie fühlte sich wohl, war glücklich. Graf: „Wie in jeder anderen Beziehung hat es auch mal geknallt, war die Ingrid auch mal müde oder einfach nur schlecht gelaunt. In diesen Phasen konnte sie auch ganz schön stur sein. Das hat sich meist aber auch wieder schnell gelegt.“Dann, vor wenigen Jahren, war die Entwicklun­g der noch jungen Frau plötzlich rückläufig. „Hat man öfter bei Menschen, die von Trisomie 21 betroffen sind. Diese haben in der Regel keine hohe Lebenserwa­rtung“, erklärt die Sozialarbe­iterin Graf.

Wie auch immer: Ingrids Verhalten änderte sich. Die Beziehung zu den Mitbewohne­rn in der Außenwohng­ruppe, insbesonde­re zu ihrem Partner, gestaltete sich schwierige­r, sie wurde zusehends teilnahms- und antriebslo­ser, bekannte Wege erschienen ihr fremd. Ärzte vermuteten eine beginnende Demenz. Eine neue Bleibe musste gefunden werden, ein Altenheim in Saarbrücke­n. Ihre Befindlich­keit verschlech­terte sich weiterhin. Schließlic­h diagnostiz­ierte man im Krankenhau­s Krebs im Endstadium. Ingrid wurde zurückverl­egt in ihr Zimmer im Altersheim.

„Bei meinem letzten Besuch war sie so klar wie nie zuvor. Sie hat sich von mir verabschie­det. Danach habe ich sie nur noch sediert erlebt“, sagt die Betreuerin. Nach ihrem frühen Tod mit 47 Jahren im Herbst des Jahres 2016, in der nun notwendig gewordenen sogenannte­n gesetzlich­en Abwicklung wurden Ingrids leiblicher Bruder sowie eine Schwester gefunden. Auf dem Waldfriedh­of in Saarbrücke­n wurde Ingrid T. beerdigt, in einem Sammelgrab, in welchem zwei Jahre zuvor ihre Mutter beerdigt worden war. „Ihre Gruppe aus Dillingen kam zur Beerdigung im ganz kleinen Kreis“, sagt die Betreuerin.

Was bleibt? „Die Erinnerung an einen lebensfroh­en Menschen, eine Freundin, die ihr Leben trotz aller Schwierigk­eiten letztendli­ch gemeistert hat“, schließt Ulrike Graf.

Auf der Seite „Momente“stellt die SZ im Wechsel Kirchen und Lebenswege Verstorben­er vor. Online unter saarbrueck­er-zeitung.de/lebenswege

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FOTO: FAMILIE GRAF Glückliche­s Lächeln: Betreuerin Ulrike Graf (links) und ihre Tochter Nina Neufang (rechts) haben Ingrid T. bei einem Ausflug zum Awo-Jubiläum 2013 begleitet.

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