Saar-Jurist sieht im Corona-Streit Parlamente in der Pflicht
GASTBEITRAG Landtage und Bundestag müssen sich von den Regierungen das Recht zurückholen, über Corona-Maßnahmen zu entscheiden, fordert ein Verfassungsrechtler.
Die gute Nachricht vorweg. Einen schweren Verlauf hat der Patient Rechtsstaat – bislang – nicht genommen: Die Exekutive war sich trotz hoher Gewichtung des Gesundheitsschutzes ihrer Verantwortung für die Freiheitsrechte bewusst. Nach den massiven Freiheitsbeschränkungen im Frühjahr mit all ihren sozialen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgen waren es die Landesregierungen selbst, die mit abnehmendem Infektionsgeschehen schrittweise Maßnahmen zurückgenommen haben. Der Föderalismus hat seine Funktionsfähigkeit unter Beweis gestellt. Der zuweilen beklagte Flickenteppich von Regelungen ist zugleich positiver Ausdruck funktionierender Gewaltenteilung. Die föderalen Strukturen begrenzen die Macht der Bundesregierung und schaffen Wettbewerb, aber auch Rechtfertigungsdruck der Länder untereinander. Das „Ausscheren“einzelner Länder hatte durchaus heilsame Wirkung für die Freiheitsrechte. Auch die Rechtsprechung funktioniert unter Pandemiebedingungen. Die Gerichte nehmen mit korrigierenden Eingriffen zunehmend ihre Kontrollfunktion wahr.
Der Patient Rechtsstaat ist aber noch nicht über den Berg. Mit steigenden Infektionszahlen drohen neue strafbewehrte Verbote, mit denen der Staat tief in das Privatleben der Menschen eindringt, persönliche
Freiheiten beschränkt und die Wirtschaft schwer belastet. Die grundlegenden Probleme vom Frühjahr bleiben virulent. Bis heute werden die Corona-Maßnahmen hinter den verschlossen Türen des Kanzleramts beraten, von den Landesregierungen intern erarbeitet und den Bürger als vollendete Rechtsverordnungen präsentiert. Dabei gewährleistet nur ein parlamentarisches Gesetz die öffentliche Debatte von Für und Wider und damit ein wesentliches Element der repräsentativen Demokratie. Das ist umso notwendiger, je schwerer die Maßnahmen wiegen und je länger sie andauern. Der Verfassungsgerichtshof hatte darauf hingewiesen.
Das Grundgesetz gibt den Landtagen das Recht, die wesentlichen Entscheidungen an sich zu ziehen und durch Gesetz zu regeln. Diese parlamentarische Debatte bleibt den Bürgern bisweilen verweigert. Der hereinbrechende Notstand vom März, die Notwendigkeit schneller Regierungsentscheidungen sind überwunden. Längst ist klar, dass das Corona-Virus – mit oder ohne Impfstoff – nicht wieder verschwindet.
Die Parlamente sind aufgerufen, in einem breiten demokratischen Diskurs die gesellschaftlichen und ethischen Grundsatzfragen zu beantworten. Die Einordnung des Coronavirus im Verhältnis zu anderen Lebensrisiken ist lange überfällig. Welche Risiken nimmt der Staat den Menschen ab und welchen Preis sind die Gesellschaft und der einzelne längerfristig bereit, dafür zu zahlen? Covid-19 ist für viele Menschen ungefährlich, für wenige, insbesondere die Älteren, potentiell tödlich. Was folgt daraus für die Verteilung der Lasten? Der Staat muss die besonders Schutzbedürftigen besonders schützen, ihnen aber auch mehr Einschränkungen abverlangen, bevor er die Allgemeinheit pauschal mit Maßnahmen belastet. In der repräsentativen Demokratie ist es originäre Aufgabe der Parlamente, den gesellschaftlichen Grundkonsens zwischen Solidarität und Eigenverantwortung herzustellen.
Zum Autor: Markus Groß ist als Rechtsanwalt in Saarbrücken tätig, unter anderem als Fachanwalt für Verwaltungsrecht. Er ist stellvertretendes Mitglied des Verfassungsgerichtshofs des Saarlandes sowie Mitglied im Ausschuss Verfassungsrecht der Bundesrechtsanwaltskammer. Groß promovierte an der Universität des Saarlands. In einem am 23. März erschienenen Gastbeitrag mit der Überschrift „Der Rechtsstaat hat sich angesteckt“mahnte Groß zu Beginn der Corona-Pandemie zur Beachtung von Rechtsstaatlichkeit und Verhältnismäßigkeit.