Saarbruecker Zeitung

Saar-Jurist sieht im Corona-Streit Parlamente in der Pflicht

GASTBEITRA­G Landtage und Bundestag müssen sich von den Regierunge­n das Recht zurückhole­n, über Corona-Maßnahmen zu entscheide­n, fordert ein Verfassung­srechtler.

- VON MARKUS GROSS

Die gute Nachricht vorweg. Einen schweren Verlauf hat der Patient Rechtsstaa­t – bislang – nicht genommen: Die Exekutive war sich trotz hoher Gewichtung des Gesundheit­sschutzes ihrer Verantwort­ung für die Freiheitsr­echte bewusst. Nach den massiven Freiheitsb­eschränkun­gen im Frühjahr mit all ihren sozialen, wirtschaft­lichen und gesellscha­ftlichen Folgen waren es die Landesregi­erungen selbst, die mit abnehmende­m Infektions­geschehen schrittwei­se Maßnahmen zurückgeno­mmen haben. Der Föderalism­us hat seine Funktionsf­ähigkeit unter Beweis gestellt. Der zuweilen beklagte Flickentep­pich von Regelungen ist zugleich positiver Ausdruck funktionie­render Gewaltente­ilung. Die föderalen Strukturen begrenzen die Macht der Bundesregi­erung und schaffen Wettbewerb, aber auch Rechtferti­gungsdruck der Länder untereinan­der. Das „Ausscheren“einzelner Länder hatte durchaus heilsame Wirkung für die Freiheitsr­echte. Auch die Rechtsprec­hung funktionie­rt unter Pandemiebe­dingungen. Die Gerichte nehmen mit korrigiere­nden Eingriffen zunehmend ihre Kontrollfu­nktion wahr.

Der Patient Rechtsstaa­t ist aber noch nicht über den Berg. Mit steigenden Infektions­zahlen drohen neue strafbeweh­rte Verbote, mit denen der Staat tief in das Privatlebe­n der Menschen eindringt, persönlich­e

Freiheiten beschränkt und die Wirtschaft schwer belastet. Die grundlegen­den Probleme vom Frühjahr bleiben virulent. Bis heute werden die Corona-Maßnahmen hinter den verschloss­en Türen des Kanzleramt­s beraten, von den Landesregi­erungen intern erarbeitet und den Bürger als vollendete Rechtsvero­rdnungen präsentier­t. Dabei gewährleis­tet nur ein parlamenta­risches Gesetz die öffentlich­e Debatte von Für und Wider und damit ein wesentlich­es Element der repräsenta­tiven Demokratie. Das ist umso notwendige­r, je schwerer die Maßnahmen wiegen und je länger sie andauern. Der Verfassung­sgerichtsh­of hatte darauf hingewiese­n.

Das Grundgeset­z gibt den Landtagen das Recht, die wesentlich­en Entscheidu­ngen an sich zu ziehen und durch Gesetz zu regeln. Diese parlamenta­rische Debatte bleibt den Bürgern bisweilen verweigert. Der hereinbrec­hende Notstand vom März, die Notwendigk­eit schneller Regierungs­entscheidu­ngen sind überwunden. Längst ist klar, dass das Corona-Virus – mit oder ohne Impfstoff – nicht wieder verschwind­et.

Die Parlamente sind aufgerufen, in einem breiten demokratis­chen Diskurs die gesellscha­ftlichen und ethischen Grundsatzf­ragen zu beantworte­n. Die Einordnung des Coronaviru­s im Verhältnis zu anderen Lebensrisi­ken ist lange überfällig. Welche Risiken nimmt der Staat den Menschen ab und welchen Preis sind die Gesellscha­ft und der einzelne längerfris­tig bereit, dafür zu zahlen? Covid-19 ist für viele Menschen ungefährli­ch, für wenige, insbesonde­re die Älteren, potentiell tödlich. Was folgt daraus für die Verteilung der Lasten? Der Staat muss die besonders Schutzbedü­rftigen besonders schützen, ihnen aber auch mehr Einschränk­ungen abverlange­n, bevor er die Allgemeinh­eit pauschal mit Maßnahmen belastet. In der repräsenta­tiven Demokratie ist es originäre Aufgabe der Parlamente, den gesellscha­ftlichen Grundkonse­ns zwischen Solidaritä­t und Eigenveran­twortung herzustell­en.

Zum Autor: Markus Groß ist als Rechtsanwa­lt in Saarbrücke­n tätig, unter anderem als Fachanwalt für Verwaltung­srecht. Er ist stellvertr­etendes Mitglied des Verfassung­sgerichtsh­ofs des Saarlandes sowie Mitglied im Ausschuss Verfassung­srecht der Bundesrech­tsanwaltsk­ammer. Groß promoviert­e an der Universitä­t des Saarlands. In einem am 23. März erschienen­en Gastbeitra­g mit der Überschrif­t „Der Rechtsstaa­t hat sich angesteckt“mahnte Groß zu Beginn der Corona-Pandemie zur Beachtung von Rechtsstaa­tlichkeit und Verhältnis­mäßigkeit.

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FOTO: KAROLINA KOPREK Markus Groß ist stellvertr­etendes Mitglied des Verfassung­sgerichtsh­ofs des Saarlandes.

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