„Die Bäume kennen keine Wetterprognose“
Revierförster erklärt das aktuell zu beobachtende Phänomen der „Mastjahre“im saarländischen Wald.
Unsanft zu spüren bekommen es Waldbesucher in diesen Tagen: Die Eicheln prasseln regelrecht auf die Köpfe ein. Jahre, in denen Kastanien, Eicheln und Bucheckern im Überfluss vorhanden sind, heißen „Mastjahre“. Im Mittelalter wurden nämlich die Hausschweine im Herbst in die Wälder getrieben und mit den Samen der Bäume gemästet. Im Gespräch mit unserer Zeitung erklärt Ingo Piechotta, der Leiter des Forstreviers Wustweiler, was genau es mit den „Mastjahren“auf sich hat und welche Auswirkungen diese auf unsere Wälder haben.
Herr Piechotta, wieso gibt es in diesem Jahr so viele Früchte im Wald?
Ingo Piechotta: In diesem Jahr gibt es hauptsächlich deshalb so viele Früchte im Wald, aber auch Obst im Garten, weil zur Blütezeit der Bäume im Frühjahr die Witterungsbedingungen ausgezeichnet waren. Die Mehrzahl unserer Waldbäume werden nicht von Insekten, sondern mit Unterstützung des Windes bestäubt. Milde und trockene Tage mit leichter Luftbewegung begünstigen den Pollenflug und das Landen auf den weiblichen Blütenständen. In diesem Jahr ausbleibender Spätfrost verhinderte ein Erfrieren der bestäubten Blüten, sodass fast alle Fruchtanlagen sich entwickeln konnten. Die Wasservorräte im Oberboden nach dem recht feuchten Winter reichten auch zum Heranwachsen von Eichel, Buchecker und Co. aus. Die Wärme und Trockenheit haben dann im Sommer die vollständige Entwicklung und Ausreifung vor allem früher Samen und flach wurzelnder Bäume beeinträchtigt. Tiefer wurzelnde Bäume wie Eichen und Kastanien, aber auch Nussbäume fanden offensichtlich genügend Wasser für die Samenbildung. Hin und wieder hört oder liest man, die Bäume merkten, dass es mit ihnen zu Ende ginge. Deshalb investierten sie noch einmal alle Kraft in die Erhaltung ihrer Gene mit einer überreichen Produktion von Samen. Doch woher weiß der Baum im feucht-milden Frühjahr, dass ihm eine Trockenperiode in Sommer und Herbst bevorsteht? Oder ein reicher Fruchtbehang deute auf einen harten, langen, kalten Winter hin. Aber die Bäume kennen keine Wetterprognose über Monate hinweg und haben auch kein Eichhörnchen und keine Maus über deren Futtervorratsbedarf interviewt.
Schwächt die überreiche Samenproduktion die ohnehin von der Trockenheit geschädigten Bäume nicht zusätzlich?
Piechotta: In Notzeiten wie in Dürreperioden muss sich der Baum Prioritäten
setzen. Samenproduktion, Holzzuwachs und die Aufrechterhaltung eines umfangreichen wasserverdunstenden Laubmantels erfordern Wasser, Nährstoffe und Energie in ausreichender Menge. Fehlt das Wasser, kann der Baum nicht mehr ausreichend Nährstoffe aus dem Boden nachschaffen und die Energie der Sonne in baumeigene Energie und Baustoffe umwandeln. Folglich wird zuerst dort „gespart“, wo es am wenigsten wehtut; die Jahrringe werden enger, weniger Holz wächst zu. Als nächstes wird die Anzahl der Samen verringert, es fallen vorzeitig viele „Hungerkörner“ab, nur die kräftigsten Samen werden zur Reife gehalten. Gleichzeitig werden nur noch die allernotwendigsten Blätter erhalten; es kommt zu vorzeitiger Blattverfärbung und frühzeitigem Blattfall schon im Sommer. Alle Vorräte im Baum werden aufgebraucht, infolge des frühzeitigen Blattfalles können nur unzureichend Reservestoffe für das Austreiben im kommenden
Frühjahr gebildet werden, die Bäume starten in die nächste Vegetationszeit mit deutlich ungünstigeren Voraussetzungen. Mehrere dieser Stressjahr führen zu der überall festzustellenden Symptomatik in unseren Wäldern. Ein überreiches Mastjahr wie dieses Jahr bedeutet dann einen zusätzlichen gewaltigen Stressfaktor und fördert die Erholung unserer leidenden Waldbestände nicht.
Sind diese Mastjahre häufiger geworden als früher? Wenn ja, woran könnte das liegen?
Piechotta: Eine Auswertung bundesweiter Blüh- und Maststatistiken deutet daraufhin, dass die Anzahl der Jahre mit deutlichen und stärkeren Masten zunimmt, auch haben sich die Abstände zwischen den Mastjahren verkürzt. Ein Grund könnte die bessere Nährstoffversorgung, vor allem die des Stickstoffes sein. Hauptquellen dieser „Düngung“sind die „Abgase“unserer Lebensweise, vor allem Stickoxide aus
Landwirtschaft und Verkehr. Ein anderer Grund liegt sicherlich in der Klimaerwärmung, besonders in den milderen Wintern, dem früheren Vegetationsbeginn und der insgesamt verlängerten Wachstumszeit während des Jahres. Seltenere Spätfröste zur Blütezeit begünstigen häufigere Mastjahre. Die letzte Eichelmast in einem Teil des saarländischen Waldes war im Jahr 2018.
Ist es gut für den Wald und die in ihm lebenden Tiere, wenn es so viele Früchte gibt?
Piechotta: Bäume haben keine Vorstellung von der Zukunft und können deshalb auch nicht bewusst vorausschauend handeln. Die Evolution hat es aber begünstigt, dass eine stetige Produktion von Nachkommen ohne Rücksicht auf deren individuelles Schicksal die beste Voraussetzung zur Erhaltung der Waldbäume ist. Es sind immer Nachkommen vorhanden, welche dann einspringen können, wenn ein Mutterbaum abstirbt. Deshalb ist es gut, auf Dauer stets mehr Sämlinge bereit zu halten, als kurzfristig gebraucht werden. Da aber ein kontinuierlich hohes Angebot an Samen auch eine stets hohe Anzahl an Fressern nach sich ziehen würde, begünstigt der Wechsel zwischen Jahren mit vielen Samen und solchen mit fast keinen Samen die Verjüngung der Waldbäume. Die Samenfresser wie Mäuse, Eichhörnchen, Vögel oder Wildschweine reagieren auf ein Mastjahr mit einer größeren Zahl an Jungen im darauffolgenden Jahr. Dann stehen im nächsten Herbst viele hungrige Mäuler bereit. Folgte dann wieder ein Mastjahr, würden die Samenvertilger schier in ihrer Anzahl explodieren. Fällt aber die Mast aus, weil sich die Bäume von der Anstrengung erst einmal erholen müssen, werden viele Jungtiere im Winter verhungern, was den Samen im darauffolgenden Jahr dann zu gute kommt.
Wird sich der aktuelle Futterüberfluss auf die Population der Wildschweine auswirken? Wenn ja, wird es eine höhere Abschussquote geben?
Piechotta: Die seit Jahren ohnehin zu hohe Wildschweinpopulation wird von der diesjährigen Mast sicherlich profitieren. Wenn ein weiterer milder Winter kommt, werden weniger Tiere aus Hunger sterben oder erfrieren, Jungschweine werden eher trächtig und die ersten Frischlinge im Spätwinter werden bessere Überlebenschancen haben. Aber nicht nur die Winterwitterung und das Nahrungsangebot im Wald wirken sich auf die Fortpflanzung der Wildschweine aus. Es sind auch Krankheiten und das Geschick und die Eifrigkeit der Jäger, welche die Anzahl der Borstentiere beeinflussen. Besonders unter der Bedrohung durch die nun auch in Deutschland angekommene Afrikanische Schweinepest ist von allen Jägern, wo möglich, eine konsequente und effektive Bejagung der Wildschweine zu fordern. Übrigens schmeckt Wildschweinkeule auch ausgezeichnet und es handelt sich um ein wertvolles, gesundes Nahrungsmittel, dessen „Produktion“wohl am ehesten einem optimalen Tierwohl entspricht.