Viel Applaus für Musical „Hair“am Saarbrücker Staatstheater
So hat man „Hair“noch nicht gesehen: Die Inszenierung im Saarbrücker Staatstheater verlegt das Geschehen in die Gegenwart und macht das Coronavirus zum Anlass der Revolte.
Statt „Sie können Ihr Handy nach der Vorstellung wieder anschalten“hieß es diesmal „Sie dürfen die Masken anbehalten“. Dass dann einige Mobiltelefone in die Musik hinein klingelten, war jedoch keiner Gedankenlosigkeit geschuldet, sondern gehörte zum Stück: Am Samstag feierte im Saarländischen Staatstheater eine Version von „Hair“Premiere, die man so noch nie gesehen hat: Regisseur Maximilian von Mayenburg verlegt das Geschehen in die Gegenwart und erklärt statt des Vietnamkriegs das Coronavirus und die daraus resultierenden Einschränkungen individueller Freiheit zum Anlass der Revolte. Parallel werden religiöse Konflikte und die Probleme des multikulturellen Einwanderer-Prekariats abgehandelt; vor allem aber wird mit der „Black Lives Matter Bewegung“ein zweiter Brennpunkt eröffnet, mit Rassismus-Reflexen bis zur Kolonialzeit – dass wir plötzlich einem pickelhaubigen General Lothar von Trotha in Deutsch-Südwestafrika beim Völkermord zusehen, wird mit einem schlechten Drogen-Trip gerechtfertigt.
Will das Stück vielleicht zu viel? Zumal Mayenburg mitunter ein Tempo vorlegt, als gelte es, eine Nummernrevue durch den Durchlauferhitzer zu jagen: Schlag auf Schlag folgt Lied auf Lied. Bleibt da noch Platz für Erklärungen und Entwicklungen, zumal Handlung und explizite Charakterzeichnung ohnehin nie die hervorstechenden Pluspunkte dieses Musicals waren?
Ja, es funktioniert, denn die Modernisierung ist alles andere als mutwillig: Krieg, Umwelt, Religion, Sex, Drogen und Rassismus werden bereits im Original diskutiert – es ist das Verdienst dieser Inszenierung, dieses Interpretationspotenzial vor dem Hintergrund realer Wirklichkeit freizuschaufeln und mit spaßigen Szenen anzureichern. Dafür hat Nico Rabenald den Texten von Gerome Ragni und James Rado innovative deutsche Dialoge hinzugefügt, die das „American Tribal Love-Rock Musical“durchaus komisch neu erzählen – die Songs setzen die Themen und markieren Wendepunkte.
Das Intro führt in ein American Diner, dessen schwarzer Inhaber Hud (Darrin Lamont Byrd) mit Black-Panther-Stolz gegen die fordernde Anspruchshaltung seiner gehetzten Digital-Community-Kundschaft aufbegehrt. Als Corona in Form eines dokumentarischen Multimedia-Gewitters über diese Klientel hereinbricht, öffnet sich die Ziegelwand und gibt den Blick frei auf einen drehbaren Turm aus Industriepaletten (Bühne: Tanja Hofmann), die auch als Show-Treppe dienen: Judith Lefeber schreitet sie als Soul-Göttin herab, um mit einem wuchtigen „Aquarius“zu eröffnen. Obenauf thront die siebenköpfige Band unter der musikalischen Leitung von Achim Schneider (Keyboard) in einem Plexiglas-Kasten – es mag an dieser Abschirmung liegen, dass die Musik gelegentlich nicht so elastisch pumpt, wie sie es unter normalen Umständen vielleicht täte. Was die formidable Leistung der Musiker keinesfalls schmälert und der zeitlosen Qualität der komplexen Songs von Galt MacDermot ohnehin nichts anhaben kann, auch weil das stimmstarke Ensemble mit hervorragenden solistischen und kollektiven Gesangsleistungen begeistert – Gänsehaut!
Das Virus wirkt wie ein Katalysator, der gesellschaftliche Schwachstellen aufdeckt und Denkprozesse befördert: Wie kann man der allgegenwärtigen Bedrohung entfliehen, was soll man ihr entgegensetzen? George Burger (Jan-Philipp Rekeszus), eine der Hauptfiguren, bringt es auf den Punkt: Mit den Worten „Ich habe Ihren hirngewaschenen Digitaldreck satt und widme mich jetzt analogen Dingen!“spricht er seinem Chef telefonisch die Kündigung aus. Der polnischstämmige Claude Hooper Bukowski (Benjamin Sommerfeld) zieht mit, und Freundin Sheila (Sybille Lambrich) mutiert äußerlich rigoros zur Janis Joplin-Kopie: Ein Retro-Sprung zur gewaltfreien Hippiekultur scheint die Antwort auf alle Sinnfragen; die jungen Leute verbrennen ihre Klamotten, geben Smartphones und Laptops ab und verwandeln sich in bunt gewandete Langhaarige (Kostüme: Ralph Zeger). Peace, Love, Freedom, Happiness – schwierig, wenn alles, was Spaß macht, von Kontaktbeschränkungen be- oder sogar verhindert wird.
Eleonora Talamini meistert das schwierige Kunststück, mitreißende Tanzszenen auf Abstand zu choreografieren – nur mobile Trennwände mit durchsichtiger Folie machen‘s möglich, dass sich erregte Körper doch noch in freier Liebe aneinander reiben können. Die penible Einhaltung aller Regeln kontrolliert eine Zollstock-bewaffnete Dame vom Ordnungsamt, die sich als Alt-Hippie entpuppt: Mit einem witzigen Kurzauftritt und „My Conviction“macht Ingrid Peters den heutigen Möchtegern-Blumenkindern klar, wo der Aussteiger-Hammer wirklich hängt.
Doch spätestens, als ein Räuber und Gendarm-Spiel zur Hatz mit Racial Profiling eskaliert, ist Schluss mit lustig. Dass ein Schwarzer mit Bauchschuss in der Ecke liegt und krepiert, interessiert niemanden mehr. Die Hippies verwandeln sich zurück in gleichgültige, digitale Zombies – Menschen, die auf Handys starren. Da ist es nur folgerichtig, dass das finale „Let the sunshine in“hier zunächst eher zögerlich und wie ein verzweifelter Hilferuf klingt und sich erst bei der Zugabe nach verdientem Stakkato-Applaus in eine Triumph-Hymne verwandelt.
Peace, Love, Freedom, Happiness – schwierig, wenn alles, was Spaß macht, von Kontaktbeschränkungen be- oder sogar verhindert wird.