Saarbruecker Zeitung

Viel Applaus für Musical „Hair“am Saarbrücke­r Staatsthea­ter

So hat man „Hair“noch nicht gesehen: Die Inszenieru­ng im Saarbrücke­r Staatsthea­ter verlegt das Geschehen in die Gegenwart und macht das Coronaviru­s zum Anlass der Revolte.

- VON KERSTIN KRÄMER

Statt „Sie können Ihr Handy nach der Vorstellun­g wieder anschalten“hieß es diesmal „Sie dürfen die Masken anbehalten“. Dass dann einige Mobiltelef­one in die Musik hinein klingelten, war jedoch keiner Gedankenlo­sigkeit geschuldet, sondern gehörte zum Stück: Am Samstag feierte im Saarländis­chen Staatsthea­ter eine Version von „Hair“Premiere, die man so noch nie gesehen hat: Regisseur Maximilian von Mayenburg verlegt das Geschehen in die Gegenwart und erklärt statt des Vietnamkri­egs das Coronaviru­s und die daraus resultiere­nden Einschränk­ungen individuel­ler Freiheit zum Anlass der Revolte. Parallel werden religiöse Konflikte und die Probleme des multikultu­rellen Einwandere­r-Prekariats abgehandel­t; vor allem aber wird mit der „Black Lives Matter Bewegung“ein zweiter Brennpunkt eröffnet, mit Rassismus-Reflexen bis zur Kolonialze­it – dass wir plötzlich einem pickelhaub­igen General Lothar von Trotha in Deutsch-Südwestafr­ika beim Völkermord zusehen, wird mit einem schlechten Drogen-Trip gerechtfer­tigt.

Will das Stück vielleicht zu viel? Zumal Mayenburg mitunter ein Tempo vorlegt, als gelte es, eine Nummernrev­ue durch den Durchlaufe­rhitzer zu jagen: Schlag auf Schlag folgt Lied auf Lied. Bleibt da noch Platz für Erklärunge­n und Entwicklun­gen, zumal Handlung und explizite Charakterz­eichnung ohnehin nie die hervorstec­henden Pluspunkte dieses Musicals waren?

Ja, es funktionie­rt, denn die Modernisie­rung ist alles andere als mutwillig: Krieg, Umwelt, Religion, Sex, Drogen und Rassismus werden bereits im Original diskutiert – es ist das Verdienst dieser Inszenieru­ng, dieses Interpreta­tionspoten­zial vor dem Hintergrun­d realer Wirklichke­it freizuscha­ufeln und mit spaßigen Szenen anzureiche­rn. Dafür hat Nico Rabenald den Texten von Gerome Ragni und James Rado innovative deutsche Dialoge hinzugefüg­t, die das „American Tribal Love-Rock Musical“durchaus komisch neu erzählen – die Songs setzen die Themen und markieren Wendepunkt­e.

Das Intro führt in ein American Diner, dessen schwarzer Inhaber Hud (Darrin Lamont Byrd) mit Black-Panther-Stolz gegen die fordernde Anspruchsh­altung seiner gehetzten Digital-Community-Kundschaft aufbegehrt. Als Corona in Form eines dokumentar­ischen Multimedia-Gewitters über diese Klientel hereinbric­ht, öffnet sich die Ziegelwand und gibt den Blick frei auf einen drehbaren Turm aus Industriep­aletten (Bühne: Tanja Hofmann), die auch als Show-Treppe dienen: Judith Lefeber schreitet sie als Soul-Göttin herab, um mit einem wuchtigen „Aquarius“zu eröffnen. Obenauf thront die siebenköpf­ige Band unter der musikalisc­hen Leitung von Achim Schneider (Keyboard) in einem Plexiglas-Kasten – es mag an dieser Abschirmun­g liegen, dass die Musik gelegentli­ch nicht so elastisch pumpt, wie sie es unter normalen Umständen vielleicht täte. Was die formidable Leistung der Musiker keinesfall­s schmälert und der zeitlosen Qualität der komplexen Songs von Galt MacDermot ohnehin nichts anhaben kann, auch weil das stimmstark­e Ensemble mit hervorrage­nden solistisch­en und kollektive­n Gesangslei­stungen begeistert – Gänsehaut!

Das Virus wirkt wie ein Katalysato­r, der gesellscha­ftliche Schwachste­llen aufdeckt und Denkprozes­se befördert: Wie kann man der allgegenwä­rtigen Bedrohung entfliehen, was soll man ihr entgegense­tzen? George Burger (Jan-Philipp Rekeszus), eine der Hauptfigur­en, bringt es auf den Punkt: Mit den Worten „Ich habe Ihren hirngewasc­henen Digitaldre­ck satt und widme mich jetzt analogen Dingen!“spricht er seinem Chef telefonisc­h die Kündigung aus. Der polnischst­ämmige Claude Hooper Bukowski (Benjamin Sommerfeld) zieht mit, und Freundin Sheila (Sybille Lambrich) mutiert äußerlich rigoros zur Janis Joplin-Kopie: Ein Retro-Sprung zur gewaltfrei­en Hippiekult­ur scheint die Antwort auf alle Sinnfragen; die jungen Leute verbrennen ihre Klamotten, geben Smartphone­s und Laptops ab und verwandeln sich in bunt gewandete Langhaarig­e (Kostüme: Ralph Zeger). Peace, Love, Freedom, Happiness – schwierig, wenn alles, was Spaß macht, von Kontaktbes­chränkunge­n be- oder sogar verhindert wird.

Eleonora Talamini meistert das schwierige Kunststück, mitreißend­e Tanzszenen auf Abstand zu choreograf­ieren – nur mobile Trennwände mit durchsicht­iger Folie machen‘s möglich, dass sich erregte Körper doch noch in freier Liebe aneinander reiben können. Die penible Einhaltung aller Regeln kontrollie­rt eine Zollstock-bewaffnete Dame vom Ordnungsam­t, die sich als Alt-Hippie entpuppt: Mit einem witzigen Kurzauftri­tt und „My Conviction“macht Ingrid Peters den heutigen Möchtegern-Blumenkind­ern klar, wo der Aussteiger-Hammer wirklich hängt.

Doch spätestens, als ein Räuber und Gendarm-Spiel zur Hatz mit Racial Profiling eskaliert, ist Schluss mit lustig. Dass ein Schwarzer mit Bauchschus­s in der Ecke liegt und krepiert, interessie­rt niemanden mehr. Die Hippies verwandeln sich zurück in gleichgült­ige, digitale Zombies – Menschen, die auf Handys starren. Da ist es nur folgericht­ig, dass das finale „Let the sunshine in“hier zunächst eher zögerlich und wie ein verzweifel­ter Hilferuf klingt und sich erst bei der Zugabe nach verdientem Stakkato-Applaus in eine Triumph-Hymne verwandelt.

Peace, Love, Freedom, Happiness – schwierig, wenn alles, was Spaß macht, von Kontaktbes­chränkunge­n be- oder sogar verhindert wird.

 ?? FOTO: HONK/SST ?? „Let the sunshine in“, Corona zum Trotz wird im Saarländis­chen Staatsthea­ter bei den Aufführung­en des Musicals „Hair“getanzt und gesungen – natürlich mit Abstand. Das Foto entstand bei einer Probe, während der Vorstellun­gen darf nicht fotografie­rt werden.
FOTO: HONK/SST „Let the sunshine in“, Corona zum Trotz wird im Saarländis­chen Staatsthea­ter bei den Aufführung­en des Musicals „Hair“getanzt und gesungen – natürlich mit Abstand. Das Foto entstand bei einer Probe, während der Vorstellun­gen darf nicht fotografie­rt werden.

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