Saarbruecker Zeitung

Corona, Chaos und Spektakel bis zum Schluss

Der 25 Jahre alte Brite Tao Geoghegan Hart gewinnt völlig überrasche­nd einen denk- und fragwürdig­en Giro d’Italia.

-

(sid) Auf dem Weg zur Piazza del Duomo trieb der ganz normale Wahnsinn eines völlig verrückten Giro d’Italia letzte Blüten. Jai Hindley und Tao Geoghegan Hart, zwei Jungstars, die in ihren Teams eigentlich nur Helfer hätten sein sollen, kämpften am Sonntag im 15,7 Kilometer langen Einzelzeit­fahren nach Mailand um den Gesamtsieg.

Was für sich genommen außergewöh­nlich genug war, machte ein Umstand umso brisanter: Nach über 85 Stunden und fast 3500 Kilometer durch Regen und Wind, Kälte und anhaltende Corona-Sorgen lagen beide Fahrer praktisch zeitgleich an der Spitze. Nur 86 Hundertste­lsekunden – Hundertste­l werden überhaupt nur bei ansonstige­r Zeitgleich­heit ausgewiese­n – trennten den australisc­hen Spitzenrei­ter Hindley (Team Sunweb) von seinem britischen Rivalen Geoghegan Hart (Ineos Grenadiers).

Auch wenn Geoghegan Hart im Kampf gegen die Uhr schließlic­h der klar Stärkere war und noch mit 39 Sekunden Vorsprung das berühmte Rosa Trikot gewann: Selten war das Finale einer großen Rundfahrt enger, nie zuvor waren zwei Kontrahent­en um den Gesamtsieg vor dem Finale gleichauf gewesen. Der Schlussakk­ord in Mailand erinnerte an die legendäre Tour de France im Jahr 1989, als Greg Lemond mit acht Sekunden Vorsprung vor Laurent Fignon gewann.

Das Spektakel um die Trofeo Senza Fine, den gold-geschwunge­nen Siegerpoka­l, passte zu einem denkwürdig­en und überaus kontrovers­en Giro d’Italia. Wie schon die Tour de France gelang auch der

Italien-Rundfahrt das durchaus in Zweifel gezogene Kunststück, inmitten der Pandemie nach drei Wochen das Ziel zu erreichen. So geräuschlo­s wie die Tour über weite Phasen in Paris ankam, so turbulent ging es allerdings beim Giro zu.

Positive Coronatest­s in der „Blase“, Fahrer-Proteste, der Rückzug zweier Teams und sogar die vorläufige Suspendier­ung eines Radprofis nach positiven Dopingprob­en – über diesen eigenartig­en Giro wird noch lange gesprochen werden. Womöglich auch vor Gericht.

„Jemand wird dafür bezahlen“, schimpfte Renndirekt­or Mauro Vegni am Freitag, als die 19. Etappe zur Farce geworden war. Angesichts der äußerst widrigen Wetterbedi­ngungen und Sorgen um die Gesundheit protestier­ten die Fahrer gegen die unnötig lange Etappe über 258 Kilometer. Es herrschten Chaos und Unklarheit, am Ende absolviert­en die Fahrer 124 Kilometer.

„Ich denke, wir werden uns mit den Anwälten unterhalte­n. Wir glauben, dass es Konsequenz­en geben wird“, sagte Rundfahrt-Chef Vegni, der mangelnden Respekt vor dem Rennen und den Zuschauern beklagte, dem TV-Sender Rai. Die Fahrer verteidigt­en sich.

Es war nicht der einzige Vorfall, bei dem sich Vegni und der Veranstalt­er RCS Sport den Unmut des Pelotons zuzogen. Seit dem Giro-Start kam es immer wieder zu Verstimmun­gen. Die teils langen Transfers irritierte­n, auch das Anti-Corona-Konzept war im Verlauf des Rennens deutlich kritisiert worden.

Das Team EF Pro Cycling hatte einen Abbruch am zweiten Giro-Ruhetag gefordert, der Belgier Thomas De Gendt vom Rennstall Lotto-Soudal fühlte sich „nicht sicher“. Die Teams Jumbo-Visma und Mitchelton-Scott zogen sich nach positiven Fällen vom Rennen zurück. Nur 133 von 176 gestartete­n Fahrern erreichten am Sonntag die Metropole in der Lombardei. Unter ihnen waren mit Jai Hindley und Tao Geoghegan Hart zwei, die unerwartet vom Gesamtsieg träumten. Und Hart setzte sich letztlich durch.

 ?? FOTO: BETTINI/AFP ?? Tao Geoghegan Hart reckt vor dem Mailänder Dom den Daumen. Der Brite ist noch sichtlich mitgenomme­n von den Strapazen des Giro.
FOTO: BETTINI/AFP Tao Geoghegan Hart reckt vor dem Mailänder Dom den Daumen. Der Brite ist noch sichtlich mitgenomme­n von den Strapazen des Giro.

Newspapers in German

Newspapers from Germany