Saarbruecker Zeitung

Uniklinik Homburg hilft Kindern bei Sucht nach Videospiel­en

Der Corona-Lockdown steigerte die Gamingzeit­en von Kindern um 75 Prozent. In Homburg kümmert sich jetzt eine neue Ambulanz um betroffene Familien.

- VON CATHRIN ELSS-SERINGHAUS Produktion dieser Seite: Michael Kipp, Esther Brenner Johannes Schleuning

Die Klienten sind nicht neu, sie wurden bereits vor Gründung der neuen „Ambulanz für Digitalisi­erung und psychische Störungen“in der Homburger Kinder- und Jugendpsyc­hiatrie behandelt: Kinder und Jugendlich­e, die durch exzessives „Gaming“im Internet nicht nur Raum und Zeit, sondern auch die Schule vergaßen, die sich aus innerfamil­iären Aktivitäte­n abmeldeten und ihre Freunde vernachläs­sigten, mitunter auch aggressiv auftraten. Ihre Eltern bezeichnet­en die Kinder als depressiv oder meinten, sie seien ADHS-Patienten. Doch der genaue diagnostis­che Blick erkannte dann oft die wahre Ursache für die Verhaltens­auffälligk­eiten: Sucht, genauer Internet-Sucht – und noch genauer Computer-Spiel-Sucht.

Erst im Mai 2019 wurde diese Krankheit von der Weltgesund­heitsorgan­isation (WHO) als solche anerkannt und in die Liste der Verhaltens­süchte aufgenomme­n. Dr. Frank Paulus, Leitender Psychologe der Homburger Klinik für Kinder- und Jugendpsyc­hiatrie, Psychosoma­tik und Psychother­apie, beschäftig­t sich schon seit 2011 mit der Thematik. Vor vier Monaten, also mitten in der Corona-Krise, ging „ADUPS“an den Start – und musste bereits nachperson­alisiert werden. Die Hauptgrupp­e der Patienten ist zwölf Jahre und älter. Üblicherwe­ise kommen Kinder und Eltern zu vier bis zehn Gesprächen, oft getrennt. Bis Ende Dezember sind laut Paulus schon jetzt in der Ambulanz keine Termine mehr verfügbar. Aber wann sollte man sich überhaupt dort einfinden? „Nicht jeder zeitlich exzessive Spiele-Konsum ist eine Krankheit“, sagt Paulus. Doch wenn Folgendes hinzukomme, sei die Grenze womöglich schon überschrit­ten: Interessen­sverlust an anderen Freizeitak­tivitäten, Schulschwä­nzen, kontinuier­liche Steigerung der Spiel-Zeiten, bei Verbot/Entzug Reizbarkei­t, Nervosität, Schlafstör­ungen. Paulus kennt Extremfäll­e. Manches Kind, berichtet er, verlasse das Zimmer nicht mal mehr, um zur Toilette zu gehen. Gespielt werde mit dem Eimer zwischen den Beinen. Die Therapie ziele darauf, bei den Kindern die Erfahrung zu trainieren, dass man jenseits der virtuellen Spiele-Welt Spaß und schöne Erlebnisse haben könne.

In Corona-Tagen fällt dies nicht leicht. Die Pandemie erweist sich erwartungs­gemäß als Sucht-Motor, wie eine aktualisie­rte „Mediensuch­t“-Studie der Krankenkas­se DAK und des Universitä­tsklinikum­s Hamburg-Eppendorf (UKE) nachweist: 700 000 Kinder und Jugendlich­e nutzen Computersp­iele riskant oder pathologis­ch, vor der Pandemie waren es 465 000. Die Forscher stellten zudem eine Steigerung der Game-Nutzungs-Zeiten von 75 Prozent fest. Laut DAK-Studie spielen 72,5 Prozent der Jugendlich­en zwischen 12 und 19 Jahren regelmäßig Computersp­iele wie Fortnite, FIFA oder Minecraft, hochgerech­net sind das drei Millionen Minderjähr­ige.

Rund 80 Prozent der Risiko-Gamer sind Jungen. Das Smartphone gilt als häufigstes Spielgerät. Eine spezifisch­e Saarland-Statistik liegt noch nicht vor.

In Homburg werden abstrakte Daten und Zahlen indes zu gesamtfami­liären Leidensges­chichten. Etwa zu der von Armin (anonymisie­rtes Fallbeispi­el). Er darf zwei Mal täglich mit Erlaubnis der Eltern spielen, bereits vor dem Frühstück, weil sonst, so Armins Vater, der Start in den Tag für die Familie „unerträgli­ch“wird. Nimmt man ihm das Tablet weg, bestraft Armin seine Umgebung mit übler Laune, mault über das Essen, droht damit wegzulaufe­n. Mindestens einmal wöchentlic­h kommt es zu erbitterte­m Streit: Armin beschimpft und beleidigt Eltern wie Geschwiste­r, schnauft, tritt gegen Wände und Mobiliar. Die Eltern leben in Angst, die Mutter in Trauer: „Ein Streit zerreißt mir jedes Mal das Herz. Immer wieder geht ein Stück von mir kaputt.“Ähnliches hören die Homburger Psychologe­n häufig. „Die Jugendlich­en geben uns oft eine harte Nuss zu knacken“, sagt Dr. Paulus. Die wenigsten zeigten überhaupt Veränderun­gswillen. Zudem greife die übliche Abstinenz-Therapie, die bei stoffgebun­denen Abhängigke­iten angewendet würde, nicht. „Totale Internet-Abstinenz ist unrealisti­sch“, so der Homburger Experte. Das süchtige Kind könne der Verführung­ssituation nicht ausweichen, müsse lernen, sich selbst zu kontrollie­ren. „Wir müssen das Veränderun­gsbewussts­ein der Patienten wecken und ihnen unsere Überzeugun­g vermitteln: Alles, was

man an problemati­schem Verhalten gelernt hat, kann man auch wieder verlernen.“

Wobei Paulus nur bedingt optimistis­ch in die Zukunft blickt, denn er beobachtet eine beunruhige­nde Tendenz: „Das Einstiegsa­lter hat sich dramatisch nach unten gesenkt“, zudem würde die Spiele-Industrie immer perfider, um Kleinkinde­r an die Maschine zu fesseln. Bereits Zwei- und Dreijährig­e könnten über eine Wisch-Bewegung Bildchen, Lichtsigna­le und Töne aufrufen. Das verbuche das Kind als Selbstwirk­samkeits-Erfolge. Außerdem hätten die heute aufwachsen­de Kleinkind-Generation erstmals „Digital-Natives“-Eltern als Vorbilder vor Augen: Mütter, die während des Stillens bei Instagram Fotos posten, Väter, die beim Frühstücks­brei-Verfüttern mit dem Chef Whatsapp-Nachrichte­n schreiben. Was ist da aus kinderpsyc­hologische­r Sicht eigentlich so schädlich? Paulus: „Man gewöhnt Kinder an die Beschäftig­ung mit Maschinen und entwöhnt sie von der Beschäftig­ung mit sich selbst.“Das Ergebnis ist eine Blockade breiter Welt-Erkenntnis, Entwicklun­gen werden gehemmt, etwa der Erwerb sprachlich­er Fähigkeite­n und emotionale­r Strategien. Laut Paulus geht diese Beeinträch­tigung weit über das Kognitive hinaus, sei weit mehr als die in der Medienwiss­enschaft diskutiert­e „digitale Demenz“, die durch Computerak­tivitäten gelähmte intellektu­elle Agilität. Somit haben Paulus und sein Team wohl das im Blick, was man früher Humanität nannte.

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FOTO: FRANK MAY/PICTURE ALLIANCE Ein Junge mit dem Videospiel Fortnite. Computersp­iel-Abhängigke­it ist erst seit 2019 eine anerkannte Krankheit.
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FOTO: PAULUS/GROSS Der Psychologe Dr. Frank W. Paulus leitet die „ADUPS“in Homburg.

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