Uniklinik Homburg hilft Kindern bei Sucht nach Videospielen
Der Corona-Lockdown steigerte die Gamingzeiten von Kindern um 75 Prozent. In Homburg kümmert sich jetzt eine neue Ambulanz um betroffene Familien.
Die Klienten sind nicht neu, sie wurden bereits vor Gründung der neuen „Ambulanz für Digitalisierung und psychische Störungen“in der Homburger Kinder- und Jugendpsychiatrie behandelt: Kinder und Jugendliche, die durch exzessives „Gaming“im Internet nicht nur Raum und Zeit, sondern auch die Schule vergaßen, die sich aus innerfamiliären Aktivitäten abmeldeten und ihre Freunde vernachlässigten, mitunter auch aggressiv auftraten. Ihre Eltern bezeichneten die Kinder als depressiv oder meinten, sie seien ADHS-Patienten. Doch der genaue diagnostische Blick erkannte dann oft die wahre Ursache für die Verhaltensauffälligkeiten: Sucht, genauer Internet-Sucht – und noch genauer Computer-Spiel-Sucht.
Erst im Mai 2019 wurde diese Krankheit von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) als solche anerkannt und in die Liste der Verhaltenssüchte aufgenommen. Dr. Frank Paulus, Leitender Psychologe der Homburger Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, beschäftigt sich schon seit 2011 mit der Thematik. Vor vier Monaten, also mitten in der Corona-Krise, ging „ADUPS“an den Start – und musste bereits nachpersonalisiert werden. Die Hauptgruppe der Patienten ist zwölf Jahre und älter. Üblicherweise kommen Kinder und Eltern zu vier bis zehn Gesprächen, oft getrennt. Bis Ende Dezember sind laut Paulus schon jetzt in der Ambulanz keine Termine mehr verfügbar. Aber wann sollte man sich überhaupt dort einfinden? „Nicht jeder zeitlich exzessive Spiele-Konsum ist eine Krankheit“, sagt Paulus. Doch wenn Folgendes hinzukomme, sei die Grenze womöglich schon überschritten: Interessensverlust an anderen Freizeitaktivitäten, Schulschwänzen, kontinuierliche Steigerung der Spiel-Zeiten, bei Verbot/Entzug Reizbarkeit, Nervosität, Schlafstörungen. Paulus kennt Extremfälle. Manches Kind, berichtet er, verlasse das Zimmer nicht mal mehr, um zur Toilette zu gehen. Gespielt werde mit dem Eimer zwischen den Beinen. Die Therapie ziele darauf, bei den Kindern die Erfahrung zu trainieren, dass man jenseits der virtuellen Spiele-Welt Spaß und schöne Erlebnisse haben könne.
In Corona-Tagen fällt dies nicht leicht. Die Pandemie erweist sich erwartungsgemäß als Sucht-Motor, wie eine aktualisierte „Mediensucht“-Studie der Krankenkasse DAK und des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE) nachweist: 700 000 Kinder und Jugendliche nutzen Computerspiele riskant oder pathologisch, vor der Pandemie waren es 465 000. Die Forscher stellten zudem eine Steigerung der Game-Nutzungs-Zeiten von 75 Prozent fest. Laut DAK-Studie spielen 72,5 Prozent der Jugendlichen zwischen 12 und 19 Jahren regelmäßig Computerspiele wie Fortnite, FIFA oder Minecraft, hochgerechnet sind das drei Millionen Minderjährige.
Rund 80 Prozent der Risiko-Gamer sind Jungen. Das Smartphone gilt als häufigstes Spielgerät. Eine spezifische Saarland-Statistik liegt noch nicht vor.
In Homburg werden abstrakte Daten und Zahlen indes zu gesamtfamiliären Leidensgeschichten. Etwa zu der von Armin (anonymisiertes Fallbeispiel). Er darf zwei Mal täglich mit Erlaubnis der Eltern spielen, bereits vor dem Frühstück, weil sonst, so Armins Vater, der Start in den Tag für die Familie „unerträglich“wird. Nimmt man ihm das Tablet weg, bestraft Armin seine Umgebung mit übler Laune, mault über das Essen, droht damit wegzulaufen. Mindestens einmal wöchentlich kommt es zu erbittertem Streit: Armin beschimpft und beleidigt Eltern wie Geschwister, schnauft, tritt gegen Wände und Mobiliar. Die Eltern leben in Angst, die Mutter in Trauer: „Ein Streit zerreißt mir jedes Mal das Herz. Immer wieder geht ein Stück von mir kaputt.“Ähnliches hören die Homburger Psychologen häufig. „Die Jugendlichen geben uns oft eine harte Nuss zu knacken“, sagt Dr. Paulus. Die wenigsten zeigten überhaupt Veränderungswillen. Zudem greife die übliche Abstinenz-Therapie, die bei stoffgebundenen Abhängigkeiten angewendet würde, nicht. „Totale Internet-Abstinenz ist unrealistisch“, so der Homburger Experte. Das süchtige Kind könne der Verführungssituation nicht ausweichen, müsse lernen, sich selbst zu kontrollieren. „Wir müssen das Veränderungsbewusstsein der Patienten wecken und ihnen unsere Überzeugung vermitteln: Alles, was
man an problematischem Verhalten gelernt hat, kann man auch wieder verlernen.“
Wobei Paulus nur bedingt optimistisch in die Zukunft blickt, denn er beobachtet eine beunruhigende Tendenz: „Das Einstiegsalter hat sich dramatisch nach unten gesenkt“, zudem würde die Spiele-Industrie immer perfider, um Kleinkinder an die Maschine zu fesseln. Bereits Zwei- und Dreijährige könnten über eine Wisch-Bewegung Bildchen, Lichtsignale und Töne aufrufen. Das verbuche das Kind als Selbstwirksamkeits-Erfolge. Außerdem hätten die heute aufwachsende Kleinkind-Generation erstmals „Digital-Natives“-Eltern als Vorbilder vor Augen: Mütter, die während des Stillens bei Instagram Fotos posten, Väter, die beim Frühstücksbrei-Verfüttern mit dem Chef Whatsapp-Nachrichten schreiben. Was ist da aus kinderpsychologischer Sicht eigentlich so schädlich? Paulus: „Man gewöhnt Kinder an die Beschäftigung mit Maschinen und entwöhnt sie von der Beschäftigung mit sich selbst.“Das Ergebnis ist eine Blockade breiter Welt-Erkenntnis, Entwicklungen werden gehemmt, etwa der Erwerb sprachlicher Fähigkeiten und emotionaler Strategien. Laut Paulus geht diese Beeinträchtigung weit über das Kognitive hinaus, sei weit mehr als die in der Medienwissenschaft diskutierte „digitale Demenz“, die durch Computeraktivitäten gelähmte intellektuelle Agilität. Somit haben Paulus und sein Team wohl das im Blick, was man früher Humanität nannte.