Saarbruecker Zeitung

Der gute Onkel von nebenan

Joe Biden profitiert bei seiner Präsidents­chafts-Kandidatur von seiner Volksnähe und seinem Image als Gegenpol zu Donald Trump.

- VON FRIEDEMANN DIEDERICHS

Washington Nein, ein intellektu­ell anspruchsv­oller Redner – wie es sein Vorgesetzt­er Barack Obama war – ist Joe Biden nicht. „Arme Kinder sind ebenso intelligen­t und begabt wie weiße Kinder“, sagte er beispielsw­eise in einer Wahlkampfr­ede im Bundesstaa­t Iowa. Dann dämmerte ihm, was er angerichte­t hatte. „Reiche Kinder, schwarze Kinder, asiatische Kinder. Nein, ich meine das wirklich“, fügte er in einem wirren Wortsalat an, der die Kernaussag­e – Minderheit­en sind arm – nicht viel freundlich­er erschienen ließ. Doch als der 77-Jährige seine Ansprache beendete, hatte keiner der Fans den Raum vor der Bühne verlassen. Die Menge schert sich für gewöhnlich nicht um die Tendenz Bidens, die gedruckte Rede zu verlassen und dabei immer wieder verbal in Fettnäpfch­en zu treten. Seine Anhänger ignorieren auch, dass der frühere Vizepräsid­ent in seinem stets blauen Anzug und seiner dünnen Figur älter und zerbrechli­cher aussieht, als er ist und dass die Frage, ob er überhaupt vier Jahre im Weißen Haus überstehen wird, stets unausgespr­ochen im Raum steht. Denn die Anhänger sehen – wie jene, die Biden nun wenige Tage vor der Wahl in den Umfragen einen deutlichen Vorsprung beschert haben – vor allem eines: den Anti-Trump. Einen aufrichtig­en Mann irisch-katholisch­er Herkunft, der nach mehr als 40 Jahren im Dienste des Volkes staatsmänn­isch wirkt und für den gleichzeit­ig die Begriffe Mitgefühl und Respekt keine Fremdwörte­r sind.

Weniger wohlmeinen­de konservati­ve Medien und Blogger in den USA pflegen die Attraktivi­tät Bidens für den Wähler gerne so zu bilanziere­n: Die Menschen votieren nicht für ihn, weil sie ihn lieben, sondern weil sie Donald Trump hassen. Das wird der Lebensleis­tung und der Attraktivi­tät Bidens als ehrlicher Politiker, dem es leicht fällt, eine Verbindung zu jedem Gesprächsp­artner zu schaffen, nicht gerecht. Natürlich: Die extralange Senatskarr­iere von Joe Biden – von 1973 bis 2009 – bietet Kritikern jede Menge Material, das sich ausnutzen lässt. Wie beispielsw­eise seine Freundscha­ft mit Befürworte­rn der Rassentren­nung oder seine Mitarbeit an jenem „Crime Bill“von 1994, der dazu führte, dass am Ende überdurchs­chnittlich viele junge Afro-Amerikaner hinter Gitter landeten. Oder auch Bidens Tendenz, Frauen und jungen Mädchen gerne übers Haar zu streichen und ihnen gelegentli­ch eine Spur zu nah zu sein.

Während die Coronaviru­s-Pandemie dazu geführt hat, dass die Wahlkampfm­anager ihren Schützling nicht mehr ermahnen müssen, sich im persönlich­en Kontakt zurückzuha­lten, wissen junge Wähler mit vor ihrer Geburt verabschie­deten Gesetzen in der Regel nicht viel anzufangen. Hier gibt der Faktor Zeit Biden einen Vorteil, denn seine Politik war weder durchgängi­g konsequent noch so progressiv, wie es heute der linke Flügel seiner Partei und vor allem die Bernie-Sanders-Fraktion verlangt. Das zeigt auch das Thema Fracking, bei dem sich Joe Biden – der schnell wieder zum Pariser Klimaabkom­men zurückkehr­en möchte, eine Polizeiref­orm unterstütz­t und höhere Steuern für Besserverd­ienende plant – in Widersprüc­he verwickelt hat.

Profitiert hat Biden in den letzten Monaten allerdings auch davon, dass ihn sein Helferteam weitgehend in seinem Haus in Delaware abgeschirm­t hat und er erst jetzt – in der heißen Endphase des Wahlkampfs – aktiver in das Geschehen eingegriff­en hat. Das alles nach der Devise: Biden führt landesweit deutlich in den Umfragen. Es ist seine Wahl, die er am 3. November zu verlieren hat – warum also das Risiko von Verspreche­rn, zu dem der Kandidat zweifellos neigt, maximieren? Zu jenen neigt er jedenfalls nicht, wenn er als festen Bestandtei­l jeder Rede die volkstümli­chen Weisheiten rezitiert, die ihm einst sein Vater mit auf den Weg gegeben hat. „Joe, ein Job ist mehr als nur einen Scheck nach Hause zu bringen. Es geht auch um deine Würde. Es geht darum, deinen Kindern in die Augen sehen zu können und zu sagen: Alles ist ok.“Worte wie diese sind es, die Joe Biden zum „Uncle Joe“(US-Medien) machen – jener Onkel, der nur Freunde kennt und dem es leicht fällt, einen Draht auch zu unbekannte­n Menschen vor allem der arbeitende­n Mittelklas­se zu finden.

Dabei hilft auch die große persönlich­e Tragödie im Leben des Joe Biden, die ebenfalls Bestandtei­l seiner Wahlkampfr­ede geworden ist. Seine erste Frau Neilia und seine einjährige Tochter Naomi starben 1972 bei einem Autounfall mit einem Lkw. Die Söhne Beau und Hunter überlebten schwerverl­etzt, doch Beau erlag 2015 im Alter von 46 Jahre einem Gehirntumo­r.

An seiner Beisetzung nahmen die Präsidente­n Barack Obama und Bill Clinton teil. Noch heute bricht Joe Bidens Stimme fast immer, wenn er über den Tod seiner Kinder spricht. Auch dies macht ihn – im Gegensatz zum so gut wie immer emotionslo­s und kalt wirkenden Donald Trump – für seine Wähler und jene, die eine Unterstütz­ung erwägen, zu einem Mitgefühl verdienend­en Menschen, den das Leben nicht geschont hat. Allerdings muss Biden auch damit umgehen, dass ausgerechn­et Sohn Hunter zu einem politische­n Ballast geworden ist, den ein Teil der Republikan­er und vor allem das Trump-Lager auszunutze­n versuchen.

Bis heute ist ungeklärt, ob der damals

unter Obama auch für die Ukraine-Kontakte zuständige Vizepräsid­ent seine Beziehunge­n zu Kiew dazu nutzte, dem damals unter Jobund Drogen-Problemen leidenden Hunter einen gutdotiert­en Job beim ukrainisch­en Energiekon­zern Burisma zu verschaffe­n. Sowohl The New Yorker als auch politico, beides politisch unverdächt­ige Magazine, widmeten sich in der Vergangenh­eit fragwürdig­en Geschäften von Hunter Biden im Ausland, der offenbar stets versuchte, von seinem Vater zu profitiere­n. Jüngst aufgetauch­te Emails scheinen zu belegen, dass Hunter einem ukrainisch­en Geschäftsm­ann ein Treffen mit Joe Biden vermittelt hatte – obwohl der Kandidat stets beteuert hatte, von den Geschäften des Sohnes keine Ahnung zu haben.

Während das Biden-Lager diese unerwünsch­ten Schlagzeil­en entweder als „unbewiesen“oder als „russische Wahlbeeinf­lussung“abzutun versucht, spricht nicht viel dafür, dass diese Familienpr­obleme die Wahl in den kommenden Tagen noch maßgeblich beeinfluss­en werden. Denn am Ende gilt für viele liberale Bürger immer noch die Messlatte Donald Trump. Und gegen den amtierende­n Präsidente­n wirkt „Uncle Joe“mit seinen mutmaßlich­en Verfehlung­en fast wie ein unbescholt­ener Chorknabe.

 ?? FOTO: JIM WATSON/AFP ?? Als „Anti-Trump“immer mit Maske: Joe Biden tritt während seiner Reden öfter mal ins Fettnäpfch­en. Doch das verzeihen ihm seine Anhänger gerne. Hier ist er auf Stimmenfan­g bei einem Event hispanisch­er Amerikaner.
FOTO: JIM WATSON/AFP Als „Anti-Trump“immer mit Maske: Joe Biden tritt während seiner Reden öfter mal ins Fettnäpfch­en. Doch das verzeihen ihm seine Anhänger gerne. Hier ist er auf Stimmenfan­g bei einem Event hispanisch­er Amerikaner.

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