„Fahrt runter!“– Intensivmediziner hoffen auf positive Effekte
(dpa) In Deutschlands Intensivstationen wachsen angesichts der rasant steigenden Corona-Infektionszahlen die Sorgen. „Es ist jetzt schon nachweislich schlimmer als im Frühjahr“, sagt Uwe Janssens, Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensivund Notfallmedizin (DIVI). „In 14 Tagen haben wir die schweren Krankheitsfälle, und unsere großen Zentren kommen unter Maximalbelastung.“Die Beschlüsse von Bund und Ländern seien sehr sinnvoll, sagte der Chefarzt der Infektiologie in der München Klinik Schwabing, Clemens Wendtner, am Donnerstag in Berlin. Mit einer gewissen Bremsspur seien hoffentlich sehr bald positive Effekte zu sehen, die ermöglichten, dass das Gesundheitssystem weiterhin funktioniere.
In vielen Kliniken, die mit Spezialisten und Beatmungsgeräten bei schweren Corona-Fällen gefragt sind, ist eine Verschärfung spürbar. In Berlin, Bayern und Nordrhein-Westfalen seien einige Kliniken schon gut mit Covid-19-Patienten belegt, andere Erkrankte würden bereits verdrängt, sagte Stefan Kluge, Leiter der Intensivmedizin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE). Die Lage sei „absolut besorgniserregend“. Von den Infizierten müssten etwa fünf Prozent im Krankenhaus behandelt werden, zwei Prozent auf der Intensivstation, so Kluge. Über 70-Jährige hätten ein Todesrisiko von über 50 Prozent.
Dabei ist die Lage regional unterschiedlich, wie Janssens erläuterte. So seien in Schleswig-Holstein 40,7
Prozent der Intensivbetten frei, in Hessen 18,7 Prozent, in Berlin aber nur noch 13,7 Prozent. In der Hauptstadt habe die Belegung kräftig angezogen, sagte der Direktor der Medizinischen Klinik mit Schwerpunkt Infektiologie und Pneumologie der Charité, Norbert Suttorp. 440 Corona-Patienten seien auf Normalstationen und 160 auf Intensiv – mehr als etwa im April. Dabei seien Intensivstationen im Winter ohnehin meist voll belegt. Janssens erläuterte, Kliniken müssten sich jetzt bereits fragen, bei welchen Patienten sie vereinbarte Operationen guten Gewissens verschieben könnten. Die Devise könne nur lauten: „Fahrt runter!“.
Das Problem ist dabei nicht so sehr die Anzahl der Intensivbetten. „Wir haben mehr Betten und mehr Beatmungsgeräte als zu Beginn der Pandemie. Aber wir haben nicht eine müde Maus mehr beim Personal“, sagte Janssens. „Bis jetzt sind wir zurechtgekommen. Aber wir müssen die Pflegepersonal-Untergrenzen wieder aussetzen, wenn das so weitergeht.“Seine Vereinigung führt ein Register, das die bundesweit freien Intensivbetten anzeigt. Damit soll auch eine Verlegung aus stark ausgelasteten Kliniken in Häuser mit Kapazitäten ermöglicht werden.
Der einhellige Tenor aus vielen Uni-Kliniken lautet Janssens zufolge schon: Es gibt mehr Infektionen unter Klinik-Mitarbeitern. „Wir haben im März und April kaum Infektionen gehabt, die jemand von draußen hereingetragen hat“, erläutert er. „Jetzt haben wir in kürzester Zeit Mitarbeiter, die positiv sind. Sie sind sofort raus.“Andere hätten engen Kontakt zu positiv Getesteten gehabt. „Die sind dann auch noch weg.“
Das Schichtsystem auf Intensivstationen könne damit schnell aus den Fugen geraten. Ein beatmeter Covid-19-Patient braucht allein bis zu fünf Schwestern oder Pfleger.
Vor einem Personal-Notstand hatte bereits die Deutsche Gesellschaft für Fachkrankenpflege gewarnt. Nicht, weil es an Intensivbetten mangele, sondern an qualifiziertem Fachpflegepersonal. „Wir richten unseren Aufruf auch an alle Mitarbeiter im Krankenhaus: ,Leute, ihr seid systemrelevant. Auch, wenn ihr das Krankenhaus verlasst’“, berichtet Janssens, Chefarzt der Klinik für Innere Medizin und Internistische Intensivmedizin am St.-Antonius-Hospital im nordrhein-westfälischen Eschweiler. Da sei eine Party einfach nicht der richtige Zeitpunkt. Er selbst sei großer Opern- und Theaterfan. „Ich vermisse das wahnsinnig“, ergänzte Janssens. „Aber ich sehe es als gesellschaftliche Aufgabe und Verpflichtung an, mich da zurückzuhalten. Damit schütze ich viele, viele andere.“
Ein Blick auf die derzeit nur langsam steigende Zahl der Todesopfer tauge nicht zur Einschätzung der aktuellen Lage, sagte Kluge aus Hamburg. „Wir müssen auf die Zahl der Intensivpatienten gucken. Dann wissen wir, wohin die Reise geht.“Derzeit gehe die Kurve steil nach oben. Es dauere im Schnitt zehn Tage, bis Patienten mit Symptomen auf die Intensivstation verlegt werden müssten. Die Aufenthaltsdauer auf der Intensivstation bei beatmeten Patienten betrage zwei bis drei Wochen. Das bedeute, dass sich die Zahl der Neuinfektionen erst mit einer Verzögerung von drei bis vier Wochen auf Todesfälle auswirke.