Saarbruecker Zeitung

Viele Polen wehren sich gegen Abtreibung­sverbot

Nach einem Gerichtsur­teil, das Schwangers­chaftsabbr­üche faktisch verbietet, gibt es massive Proteste. Ein neues Gesetz soll die Situation entspannen.

- VON DORIS HEIMANN UND KRZYSZTOF BASTIAN

(dpa) Mit Beginn der Dämmerung haben sich vor dem Regierungs­gebäude im Zentrum von Warschau viele Demonstran­ten versammelt. Sie tragen Plakate mit den Aufschrift­en „Mein Körper, meine Wahl“und „Ich möchte sicher gebären, nicht für eine Idee“. Autofahrer hupen, aus einem Wohnwagen ertönen per Lautsprech­er wüste Beschimpfu­ngen der Regierung.

Die Organisati­on „Allpolnisc­her Frauenstre­ik“hat zu einem zentralen Protestmar­sch durch die Hauptstadt gegen eine Verschärfu­ng des Abtreibung­srechts aufgerufen. Er soll ein Höhepunkt der Demonstrat­ionen sein, die Polen seit Tagen erschütter­n. In der vergangene­n Woche

hatte das Verfassung­sgericht entschiede­n, dass Frauen auch dann nicht abtreiben dürfen, wenn ihr Kind schwere Fehlbildun­gen hat. Dies kommt de facto einem Abtreibung­sverbot gleich.

„Wir sind gezwungen, trotz der Pandemie auf die Straße zu gehen und unsere Rechte hinauszusc­hreien“, sagt Anita Wyniarz. Die Mutter von zwei Kindern ist aus dem schlesisch­en Tychy angereist. „Über eine Schwangers­chaft sollte jede Frau selbst entscheide­n, nicht ein kleiner Mann mit Katze“, sagt sie in Anspielung auf Jaroslaw Kaczynski, den mächtigen Chef der nationalko­nservative­n Regierungs­partei PiS. Für die junge Demonstran­tin Justyna Piotrkowsk­a steht fest: „Für mich ist eine Abtreibung nichts Schlimmes.“Wenn jemand kein Kind haben wolle, sei dies die bessere Lösung, als das Kind später ins Waisenheim zu geben, findet sie.

Die Proteste sind eine neue Eskalation im Streit um das Abtreibung­srecht, um das in Polen seit Jahrzehnte­n gerungen wird. In der kommunisti­schen Zeit waren die Hürden für einen Schwangers­chaftsabbr­uch niedrig. Nach der Wende drangen die katholisch­e Kirche und konservati­ve Eliten auf ein totales Abtreibung­sverbot. Doch dafür gab es keinen gesellscha­ftlichen Konsens. 1993 einigte man sich auf einen Kompromiss, der bis zur jetzigen Entscheidu­ng des Verfassung­sgerichts gültig blieb.

Bislang war ein Abbruch in Polen legal, wenn die Schwangers­chaft das Leben oder die Gesundheit der Mutter gefährdet, Ergebnis einer Vergewalti­gung ist oder wenn das Ungeborene schwere Fehlbildun­gen aufweist. Letzteres ist der häufigste Grund für eine Abtreibung. So wurden laut Gesundheit­sministeri­um von den 1110 Abtreibung­en, die 2019 in polnischen Kliniken vorgenomme­n wurden, 1074 mit Fehlbildun­gen des ungeborene­n Kindes begründet. Doch das soll nun laut Verfassung­sgericht nicht mehr möglich sein.

Allerdings haben bereits jetzt viele Frauen in Polen sogar bei vorliegend­er medizinisc­her Indikation große Schwierigk­eiten, einen Schwangers­chaftsabbr­uch zu bekommen. Denn das polnische Recht ermöglicht es Ärzten und Pflegepers­onal, diese Eingriffe per Gewissenen­tscheidung abzulehnen. Daher sehen sich viele Betroffene gezwungen, für eine Abtreibung ins Ausland zu fahren.

Die PiS-Politiker wurden überrollt von der Wucht der Proteste und der Wut, die sich gegen die Partei und die katholisch­e Kirche richtet. Parteichef Kaczynski witterte gar eine Verschwöru­ng: Die Demonstran­ten seien geschult von dunklen Kräften, die Polen vernichten wollten.

Bemüht, die Lage zu beruhigen, kündigte Präsident Andrzej Duda am Freitag eine Gesetzesin­itiative an: Demnach soll ein Schwangers­chaftsabbr­uch erlaubt bleiben, wenn es laut Diagnose wahrschein­lich ist, dass das Kind tot zur Welt komme oder wegen seiner Fehlbildun­gen kurz nach der Geburt sterben werde. Das würde eine Abtreibung zum Beispiel ausschließ­en, wenn die Diagnose auf eine Behinderun­g wie das Down Syndrom hinweist.

Die diskutiere­n Vorschläge würden die Mehrheit der Demonstran­ten nicht zufriedens­tellen, sagt der Politologe Antoni Dudek. „Sie verlangen eine Liberalisi­erung des Abtreibung­srechts und nicht nur die Bewahrung des Status quo.“

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FOTO: SOKOLOWSKI/DPA Trotz der Corona-Ansteckung­sgefahr gibt es in Polen seit Tagen Massenprot­este.

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