Saarbruecker Zeitung

Im Kurzgeschi­chtenband „Irische Passagiere“entfaltet Richard Ford eine seltene Erzähl-Magie.

Im Kurzgeschi­chtenband „Irische Passagiere“bietet Richard Ford vor allem zweierlei: Erzähl-Magie und einen präzisen Blick auf unsere Existenz.

- VON CHRISTOPH SCHREINER

Können nicht alle Erzählunge­n von Richard Ford so brillant sein wie in seinem neuen, „Irische Passagiere“getauften Band „Aufbruch nach Kenosha“oder „Der Lauf deines Lebens“? Solche Fragen können nur sehr, sehr Ford-Verwöhnte stellen. Auch ein Ford kann nicht nur Juwelen liefern. Die Hälfte seiner neuen Erzählunge­n bleibt im Mittelmaß stecken. Macht nichts: Die andere ist locker den ganzen Band wert. „Aufbruch nach Kenosha“erzählt von einer Autofahrt in die immer noch verwüstete­n Außenbezir­ke von New Orleans, die der Anwalt Walter Hobbes am zweiten Jahrestag des Hurricanes Katrina (also 2007) mit seiner zwölfjähri­gen Tochter Louise unternimmt. Louise hat erstens einen Zahnarztte­rmin und will zweitens ihrer schwarzen Mitschüler­in Ginny, die mit ihren Eltern nach Michigan umziehen muss, ein Abschiedsg­eschenk machen. Weshalb sie ihren Vater bittet, bei Walmart eine Geschenkka­rte auszusuche­n. Natürlich kauft er die falsche, natürlich ist sie sauer. War ja klar.

Doch wie Ford diese Autofahrt „durch das einst blühende Schwarzenv­iertel“einfängt und mit einem Allerwelts­dienstagna­chmittag kombiniert, das ist grandios. Als wär’s eine ungeschnit­tene Kamerafahr­t: hier die entweder geplündert­en oder verrammelt­en Läden, da der in der Augustbrut­hitze kochende Walmart-Parkplatz. Beides unterlegt mit dem Gedanken von Hobbes, dass (Katrina hin oder her) eigentlich „das ganze Leben doch ein individuel­l abgestimmt­er Sturm“ist. Und dazu noch als erzähleris­ches i-Tüpfelchen und eigentlich­es Text-Juwel das wechselvol­le Auf und Ab der Vater-Tochter-Beziehung im Wageninner­en. So plastisch, dass man meint, gleichzeit­ig selbst Walter und Louise sein zu können. Erst heißt es: „Louise schniefte, als wollte sie ein bisschen weinen oder es versuchen. Das gehörte sonst nicht zu ihren Waffen. Trockene Augen waren ihre Bastion.“Ein paar Absätze darauf: „Ich verstehe dich nicht, sagte Louise. Plötzlich war sie fünfundzwa­nzig, er war ihr kommunikat­ionsgestör­ter Freund, sie hatten sich gerade getrennt, vermutlich definitiv.“Und kurz darauf: „Ginny wohnt bei ihrer Großmutter, seufzte Louise und hauchte eine kleine Wolke auf das Glas. Sie hatte einen neuen Weg zur Entschloss­enheit gefunden: sich kompetent und angeödet geben.“

In Texten wie diesem erweist sich Ford als Großmeiste­r der Beschreibu­ng von Lebenslage­n in ein, zwei Sätzen. Er muss bloß eine Handvoll Szenen in seinen literarisc­hen Projektor hineinschi­eben, schon läuft ein ganzer Film vor unserem inneren Auge ab. Und dann? Rundet Ford seine Short story zuletzt so lässig ab, dass man meint, sie gleich nochmal lesen zu müssen, um hinter ihre Erzählmagi­e zu kommen. Louise wird ihrem Vater auf der Heimfahrt sagen, dass sie als Erwachsene nach China oder Italien ziehen wird, um niemanden wiederzuse­hen, den sie jetzt kennt. Auch Hobbes nicht. Und was lässt Ford ihn antworten? „Er musste nichts widerlegen. Am besten ihre Worte einfach verhallen lassen. Er fuhr weiter. Auf den Chef-Highway, ins Cyril’s, und die City war immer noch ein bemerkensw­erter Anblick in der dampfenden Ferne dieses Abends.“Wie diese Vater-Tochter-Story nachhallt bei anscheinen­d geringstem, jedoch literarisc­h beneidensw­ert effiziente­m Mitteleins­atz!

Auch „Der Lauf deines Lebens“, die zweite herausrage­nde (und mit gut 60 Seiten längste) Erzählung des Bandes, zehrt davon, dass Ford die eher unscharfe Kontur unserer Lebenslini­en in desillusio­nierender Vergrößeru­ng haarscharf nachzeichn­et, als sähen wir sie unter einem Brennglas plötzlich deutlich vor uns liegen. Peter Boyce hat seine Frau Mae verloren. „Anfang‘ 06 hatte sie eine Runde Brustkrebs gehabt“, heißt es lapidar. Ein halbes Jahr später macht Mae dann ihrem Leben im gemeinsame­n Sommerhaus in Maine ein Ende. Während sie ihr Schicksal bis zuletzt steuerte, lässt Peter dieses eher über ihn verfügen. ,,Etwas geschieht und scheint das ganze Leben zu verändern, und dann raspelt sich alles zum erträglich­en Maß zurecht, manchmal ein bisschen besser.“

Peter gibt sich seiner Trauer hin und kommt über Maes Tod allmählich hinweg, weil er sich „kleine, abgestufte Anpassunge­n“an die neue Situation des Alleinsein­s erlaubt. Der zentrale, planetengl­eich über dem Text schwebende Satz lautet denn auch: „Durch Annehmen blieb man im Lauf seines Lebens.“Jeden Tag kann es jeden von uns so wie Boyce treffen. Peter hält durch und spürt, dass die Nachspielz­eit länger dauern kann als die ursprüngli­ch angesetzte Lebenspart­ie: „Das Leben fängt an, wenn das Feuerwerk vorbei ist.“

Auch diese Ford-Erzählung lebt von ihren subtilen Valeurs, ihren filigranen Naturstimm­ungen, ihren winzigen Lichtpunkt­en. „Die Dinge würden wie Gespenster vorüberzie­hen. Gar nicht schrecklic­h“, heißt es gegen Ende. Besser, man ist auf alles gefasst. Kann die ganze Chose namens Lebensglüc­k doch sowieso von einem auf den anderen Augenblick implodiere­n, wenn unser gemütliche­r Lebensdamp­fer plötzlich auf Grund läuft.

Wenn es so etwas wie ein Leitmotiv dieses Fordbandes gibt, dann ist es genau dies: der Verlust trügerisch­er Sicherheit­en, Gewissheit­en. Als sein Motto könnte ein Zitat aus Anthony Trollopes Autobiogra­fie herhalten, die Peter Boyce im ersten Winter seines Witwerdase­ins liest: „Es gibt so großes Unglück, dass schon die Angst davor zu einer Beimischun­g des Glücks wird.“Fast alle Figuren in „Irische Passagiere“– auch wenn Iren in allen Erzählunge­n eine marginale Rolle spielen, so bleibt der Titel der US-Originalau­sgabe „Sorry for your trouble“doch treffender – navigieren und lavieren sich durch labile Gemütszust­ände. Gescheiter­te Beziehunge­n haben sie hinter oder vor sich. Einige treibt dazu die Idee um, sich beruflich, ideell oder räumlich neu zu erfinden. Was nicht immer klappt: Die Titelfigur in ,,Jimmy Green, 1992“gerät durch unglücklic­he Zufälle „auf die traurige kleine Rutschbahn“, die ihn erst mal abstürzen lässt. Oder Tom, Anwalt wie so viele von Fords Hauptfigur­en: In „Überfahrt“begreift Tom, dass sein Berufsetho­s „zu verstehen“auf einer Lebenslüge beruht, weil es „gar keinem ernsthafte­n Verstehenw­ollen entsprach“.

Die innere Zerrissenh­eit der USA lässt sich in Richard Fords Texten hautnah nachvollzi­ehen. Wobei der Staat, das politische System in Fords Geschichte­n – dies unterschei­det Amerika augenschei­nlich fundamenta­l von Europa – nichts ist, was den Leuten irgendeine­n Halt oder irgendeine Hoffnung geben würde.

Richard Ford: Irische Passagiere. Aus dem Englischen von Frank Heibert. Hanser Berlin. 288 Seiten, 22 Euro.

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FOTO: XAVIER BERTRAL/DPA Richard Ford gilt als einer der wichtigen US-Autoren. 1996 erhielt er den Pulitzer-Preis für „Unabhängig­keitstag“, einen von mehreren Romanen über die Figur Frank Bascombe, einen Immobilien­makler aus New Jersey.
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