Wer europäische Werte missachtet, wird bestraft
Erstmals in der Geschichte der EU soll die Möglichkeit geschaffen werden, Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit im großen Stil finanziell zu ahnden.
Wer europäische Werte demontiert oder gegen sie verstößt, muss schon bald mit harten Konsequenzen rechnen. Die Unterhändler der EU-Mitgliedstaaten sowie des Europäischen Parlamentes und der Brüsseler Kommission haben sich am Donnerstag auf einen neuen Mechanismus verständigt, um Abweichler in den eigenen Reihen zu bestrafen. Johannes Hahn, EU-Kommissar für die Verwaltung und das Personal, sprach von einem „historischen Durchbruch“. Das Lob war einhellig – quer durch alle Parteien. Dies liegt vor allem daran, dass der Beschluss den beschuldigten Ländern Polen, Ungarn, Tschechien und der Slowakei die Möglichkeit nimmt, sich gegenseitig vor Sanktionen zu schützen.
Das Verfahren läuft so ab: Sobald die Europäische Kommission einen schwerwiegenden Verstoß gegen die Grundwerte festgestellt hat und eine Kürzung der wichtigen Brüsseler Subventionen empfiehlt, muss sich der europäische Ministerrat damit befassen – und zwar binnen eines Monats. Damit Geld gestoppt werden kann, ist eine sogenannte qualifizierte Mehrheit nötig, also eine Zustimmung von mindestens 15 der 27 Mitgliedstaaten, die 65 Prozent der EU-Bevölkerung repräsentieren. Die beschuldigte Regierung darf sich äußern und verteidigen. Im Notfall kann dieser Prozess bis zu zwei Monate dauern. Danach wird dann entschieden. Dieser Modus geht sehr viel weiter als alle bisher angedachten Vorschläge.
Zusätzlich neu sind die Regelungen für den Fortgang des Verfahrens. Zum einen muss die bestrafte Regierung weiterhin den monatlichen EU-Beitrag in die Gemeinschaftskasse zahlen. Zum anderen werden die zur Strafe gestoppten Gelder nicht einbehalten, sondern „an gemeinnützige Projekte, Bürgerinnen und Bürger, Nichtregierungsorganisationen, Landwirte und Firmen“in dem betroffenen Land ausgezahlt, wie die CSU-Europapolitikerin und Vorsitzende des Haushaltskontrollausschusses, Monika Hohlmeier, sagte. So verhindere man, dass die Bürger für eine verfehlte Politik ihrer Regierung bestraft werden. „Ein sehr guter Kompromiss“, bekräftigte Hohlmeier. Der Grünen-Politiker Daniel Freund sprach von „einem Schritt nach vorne“. Die Vereinbarung sei „deutlich stärker als das, was die deutsche Ratspräsidentschaft vorgelegt hat“.
Tatsächlich hatten Berlins Unterhändler lediglich konkrete Betrugsfälle sanktionieren wollen. Vor allem die Volksvertreter drängten allerdings darauf, dass auch Angriffe auf die Unabhängigkeit der Justiz, das Richterwesen sowie weitere Werte der EU-Charta einbezogen werden. Denn auch dieser Punkt ist neu: Das Strafverfahren kann nicht erst nach vollzogenem demokratischem
Ungehorsam in Gang gesetzt werden, sondern bereits im Vorfeld, also beispielsweise bei der Einbringung eines entsprechenden Gesetzes im Parlament des beschuldigten Mitgliedslandes. Der FDP-Europapolitiker Moritz Körner bezeichnete das als einen „Rettungsschirm für den Rechtsstaat“. Weiter sagte er: „Der Kuschelkurs mit Orbán und Kaczynski ist beendet.“
Das steht allerdings noch nicht fest. Denn alle EU-Mitgliedstaaten müssen dem Kompromiss noch zustimmen. Polen und Ungarn hatten jedoch bereits im Vorfeld damit gedroht, eine derartige Vereinbarung zu torpedieren, indem sie mit ihrem Veto andere EU-Entscheidungen blockieren.
In Brüssel wird nun befürchtet, dass die beiden Regierungen möglicherweise die anstehende Einigung über einen Haushaltsrahmen für die Jahre ab 2021 und damit auch das 750 Milliarden Euro umfassende Coronavirus-Aufbauprogramm stoppen.