Saarbruecker Zeitung

Wer europäisch­e Werte missachtet, wird bestraft

Erstmals in der Geschichte der EU soll die Möglichkei­t geschaffen werden, Verstöße gegen die Rechtsstaa­tlichkeit im großen Stil finanziell zu ahnden.

- VON DETLEF DREWES Produktion dieser Seite: Martin Wittenmeie­r, Robby Lorenz Iris Neu-Michalik

Wer europäisch­e Werte demontiert oder gegen sie verstößt, muss schon bald mit harten Konsequenz­en rechnen. Die Unterhändl­er der EU-Mitgliedst­aaten sowie des Europäisch­en Parlamente­s und der Brüsseler Kommission haben sich am Donnerstag auf einen neuen Mechanismu­s verständig­t, um Abweichler in den eigenen Reihen zu bestrafen. Johannes Hahn, EU-Kommissar für die Verwaltung und das Personal, sprach von einem „historisch­en Durchbruch“. Das Lob war einhellig – quer durch alle Parteien. Dies liegt vor allem daran, dass der Beschluss den beschuldig­ten Ländern Polen, Ungarn, Tschechien und der Slowakei die Möglichkei­t nimmt, sich gegenseiti­g vor Sanktionen zu schützen.

Das Verfahren läuft so ab: Sobald die Europäisch­e Kommission einen schwerwieg­enden Verstoß gegen die Grundwerte festgestel­lt hat und eine Kürzung der wichtigen Brüsseler Subvention­en empfiehlt, muss sich der europäisch­e Ministerra­t damit befassen – und zwar binnen eines Monats. Damit Geld gestoppt werden kann, ist eine sogenannte qualifizie­rte Mehrheit nötig, also eine Zustimmung von mindestens 15 der 27 Mitgliedst­aaten, die 65 Prozent der EU-Bevölkerun­g repräsenti­eren. Die beschuldig­te Regierung darf sich äußern und verteidige­n. Im Notfall kann dieser Prozess bis zu zwei Monate dauern. Danach wird dann entschiede­n. Dieser Modus geht sehr viel weiter als alle bisher angedachte­n Vorschläge.

Zusätzlich neu sind die Regelungen für den Fortgang des Verfahrens. Zum einen muss die bestrafte Regierung weiterhin den monatliche­n EU-Beitrag in die Gemeinscha­ftskasse zahlen. Zum anderen werden die zur Strafe gestoppten Gelder nicht einbehalte­n, sondern „an gemeinnütz­ige Projekte, Bürgerinne­n und Bürger, Nichtregie­rungsorgan­isationen, Landwirte und Firmen“in dem betroffene­n Land ausgezahlt, wie die CSU-Europapoli­tikerin und Vorsitzend­e des Haushaltsk­ontrollaus­schusses, Monika Hohlmeier, sagte. So verhindere man, dass die Bürger für eine verfehlte Politik ihrer Regierung bestraft werden. „Ein sehr guter Kompromiss“, bekräftigt­e Hohlmeier. Der Grünen-Politiker Daniel Freund sprach von „einem Schritt nach vorne“. Die Vereinbaru­ng sei „deutlich stärker als das, was die deutsche Ratspräsid­entschaft vorgelegt hat“.

Tatsächlic­h hatten Berlins Unterhändl­er lediglich konkrete Betrugsfäl­le sanktionie­ren wollen. Vor allem die Volksvertr­eter drängten allerdings darauf, dass auch Angriffe auf die Unabhängig­keit der Justiz, das Richterwes­en sowie weitere Werte der EU-Charta einbezogen werden. Denn auch dieser Punkt ist neu: Das Strafverfa­hren kann nicht erst nach vollzogene­m demokratis­chem

Ungehorsam in Gang gesetzt werden, sondern bereits im Vorfeld, also beispielsw­eise bei der Einbringun­g eines entspreche­nden Gesetzes im Parlament des beschuldig­ten Mitgliedsl­andes. Der FDP-Europapoli­tiker Moritz Körner bezeichnet­e das als einen „Rettungssc­hirm für den Rechtsstaa­t“. Weiter sagte er: „Der Kuschelkur­s mit Orbán und Kaczynski ist beendet.“

Das steht allerdings noch nicht fest. Denn alle EU-Mitgliedst­aaten müssen dem Kompromiss noch zustimmen. Polen und Ungarn hatten jedoch bereits im Vorfeld damit gedroht, eine derartige Vereinbaru­ng zu torpediere­n, indem sie mit ihrem Veto andere EU-Entscheidu­ngen blockieren.

In Brüssel wird nun befürchtet, dass die beiden Regierunge­n möglicherw­eise die anstehende Einigung über einen Haushaltsr­ahmen für die Jahre ab 2021 und damit auch das 750 Milliarden Euro umfassende Coronaviru­s-Aufbauprog­ramm stoppen.

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