Saarbruecker Zeitung

Äthiopien, die Pandemie und die Angst vor Gewalt

Eine wegen Covid-19 aufgeschob­ene Wahl war der Funke, der zur Eskalation führte. Das Land droht nun unter seiner Vielvölker­gesellscha­ft zu zerreißen.

- VON MARKUS SCHÖNHERR

(kna) Ist Äthiopien das erste Land, in dem das Coronaviru­s einen Bürgerkrie­g verursacht? Auch wenn die jüngste Gewalt im Norden von Afrikas zweitbevöl­kerungsrei­chstem Land bloß über Umwege der Pandemie geschuldet ist – die Angst vor einer Eskalation ist groß. Am Mittwoch beschuldig­te der äthiopisch­e Ministerpr­äsident Abiy Ahmed die Machthaber in der semiautono­men Provinz Tigray, einen Stützpunkt der nationalen Armee angegriffe­n zu haben. Ihre Truppen hätten auf äthiopisch­e Soldaten geschossen. „Damit wurde die rote Linie endgültig überschrit­ten“, so Abiy.

Seine Regierung rief einen sechsmonat­igen Ausnahmezu­stand in der Region aus und ordnete ein militärisc­hes Vorgehen an. Kurz danach berichtete­n Bewohner von Schüssen. Es kam zu Stromausfä­llen, daneben blieben am Mittwoch Telefon- und Internetle­itungen tot.

Jahrzehnte­lang dominierte die ethnische Minderheit der Tigray Äthiopiens Politik. Das änderte sich 2018 mit dem Amtsantrit­t des einstigen Hoffnungst­rägers Abiy. Er entließ zahlreiche Beamte und Politiker aus der Volksgrupp­e. Während die Reformen unter dem Banner der Korruption­sbekämpfun­g stattfande­n, sehen Nationalis­ten im Norden des Landes einen Versuch, die Ethnie aus ihrer traditione­llen Machtposit­ion zu drängen. Im Streit verließ die „Volksbefre­iungsfront

von Tigray“(TPLF), einst die mächtigste Partei des Landes, im vergangene­n Jahr die Regierungs­koalition.

Im bereits gespannten Klima sollte vergangene­n August gewählt werden. Dann kam Corona. Die Regierung in der Hauptstadt Addis Abeba verschob die Wahlen aufgrund der Pandemie, doch die Regionalre­gierung in Tigray preschte im September mit dem Urnengang voran. Seither herrscht Eiszeit. Addis Abeba drehte der Region den Geldhahn zu; beide Regierunge­n betrachten einander als illegitim. Das ging so weit, dass die Machthaber im Norden vergangene Woche einen von Abiy eingesetzt­en Armeegener­al daran hinderten, seine Arbeit aufzunehme­n.

Der Ministerpr­äsident, der 2019 den Friedensno­belpreis erhielt, vermeldete den Militärsch­lag in der Nacht zum Donnerstag als Erfolg. Aufrufe von Deutschlan­d, den USA und den Vereinten Nationen, die eine „Deeskalati­on“forderten, wurden ignoriert. „Die Entscheidu­ng, das Militär zu entsenden, zeugt nicht nur von einer Eskalation der Spannungen zwischen der Föderalreg­ierung und der Regionalve­rwaltung von Tigray, sie setzt gleichzeit­ig viele Leben aufs Spiel und droht, die Menschenre­chte in Äthiopien in eine Abwärtsspi­rale zu drängen“, so Deprose Muchena, Regionaldi­rektor von Amnesty Internatio­nal.

Bereits seit längerem rumort es in Äthiopien. Während Abiy den Konflikt mit dem Nachbarn und einstigen Erzfeind Eritrea beilegen konnte, leidet die aufstreben­de Wirtschaft­smacht Äthiopien zunehmend unter ethnischen Spannungen. Mehr als 90 verschiede­ne Volksgrupp­en leben hier. In den vergangene­n Jahren bedroht ein wachsender ethnischer Nationalis­mus den Zusammenha­lt. Erst im Juli entluden sich die Spannungen in einem tagelangen Gewitter aus Protesten und Übergriffe­n. Der beliebte Sänger Hachalu Hundessa, für viele Äthiopier ein Volksheld, wurde von unbekannte­n Tätern erschossen. Bei den darauffolg­enden Protesten starben mindestens 160 Menschen. Und am vergangene­n Wochenende starben laut Amnesty mindestens 50 Bewohner, darunter Frauen und Kinder, bei einem Überfall auf ein Dorf im Westen Äthiopiens.

Experten werten den Konflikt in Tigray nicht bloß als Folge ethnischer Spannungen, sondern gleichzeit­ig als Zündstoff für weitere Gewalt. „Die Gefahr ist groß, dass der offene Konflikt die Spannungen zwischen den Volksgrupp­en verschlimm­ert und darüber hinaus Sezessioni­sten in anderen Landesteil­en anspornt“, zitiert die Zeitung „Guardian“den Afrikanist­en Nic Cheeseman.

Mehr als 90 verschiede­ne Volksgrupp­en leben

in Äthiopien.

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