Vom Angriff auf das Leben in Frankreich
Schüsse auf Konzertbesucher und Menschen in Bars. Die Bilanz dieser Nacht vor fünf Jahren in Paris ist schrecklich. Heute ist das Land wieder in Alarmbereitschaft.
(dpa) Auch in diesem Jahr ist es wieder ein Freitag, der 13. Vor fünf Jahren ermordeten an diesem Tag Extremisten 130 Menschen in Paris. Sie richteten ein Massaker im Konzertsaal Bataclan an, beschossen Bars und Restaurants, Selbstmordattentäter sprengten sich am Stade de France in die Luft. Der islamistische Anschlag war eine Zäsur – für Frankreich und Europa. Der fünfte Jahrestag fällt nun in eine Zeit, in der Frankreich wieder vom Terror heimgesucht wird. Drei Anschläge innerhalb weniger Wochen – es gilt die höchste Terrorwarnstufe. Was unterscheidet die mörderischen Attacken von damals und heute?
Der Anschlag im November 2015 traf Paris mitten ins Herz. Nicht umsonst war immer wieder die Rede von einem Angriff auf die Art, wie wir leben. Es war ein lauer Herbstabend damals, viele Menschen saßen auf den berühmten Pariser Terrassen, als die Terrorkommandos das Feuer eröffneten. Heute sieht man den attackierten Bars nicht mehr an, was sich dort einst für ein Horror abgespielt hat. Getreu dem Motto „Wir müssen weiterleben“ist das Leben auch im „Le Carillon“oder „Café Bonne Bière“weitergegangen. Wer genau hinschaut, entdeckt hier und da kleine
Gedenktäfelchen. In den vergangenen Wochen nach den neuerlichen Anschlägen trank man seinen Wein an diesen Orten allerdings wieder gut bewacht. Sicherheitskräfte patrouillierten zwischen Bier, Zigarettenrauch und Leichtigkeit.
Und selbst jetzt, wo wegen Corona sowieso alles geschlossen hat, stehen Schwerbewaffnete vor den menschenleeren Läden, vor dem Bataclan. Denn die Bilanz der letzten Wochen wiegt schwer: Ein Angriff auf das ehemalige Redaktionsgebäude des Satireblatts „Charlie Hebdo“Ende September. Zwei Schwerverletzte. Die brutale Ermordung des Lehrers Samuel Paty Mitte Oktober. Der Anschlag in einer Kirche in Nizza Ende Oktober. Drei Tote. Tatwaffen in allen Fällen: Messer. Motiv in allen Fällen: mutmaßlich islamistisch.
Allein seit 2017 sind offiziellen Angaben nach 32 Terroranschläge in Frankreich verhindert worden. Nach den jüngsten Attacken halten einer aktuellen Umfrage zufolge 96 Prozent der Menschen in Frankreich die Bedrohung für hoch – das sind fast so viele wie nach den Anschlägen 2015. Dennoch ist etwas anders als damals. Im November 2015 zogen mehrere islamistische Terrorkommandos durch die Seine-Metropole, die Attacke war koordiniert, von langer Hand geplant. Automatische
Schusswaffen und Sprengsätze kamen zum Einsatz. Messerattacken seien meist individuelle Angriffe, sagt der französische Politikwissenschaftler Olivier Roy der Zeitung L‘Obs mit Blick auf die aktuellen Angriffe. „Entweder haben (die Terroristen) also keinen Zugang zu Schusswaffen, weil kein logistisches Netzwerk mehr dahinter steht, oder ihr Ziel ist es nicht, möglichst viele Tote zu verursachen, sondern ihren Hass zum Ausdruck zu bringen“, sagt der Experte. Er resümiert, dass die aktuellen Attentäter weniger professionell seien als etwa die Angreifer von 2015. Sie gehörten in die Kategorie „Wut auf Gotteslästerung“und nicht in die Kategorie „Verteidigung des Kalifats“. Zudem hätten sich die Profile der Täter geändert. Von Mitte der 1990er bis einschließlich 2015 seien die Attentäter mehrheitlich aus der zweiten Generation nordafrikanischer Einwanderer gekommen.
„Seit 2016 hat sich das geändert. Die Profile sind viel heterogener, der
Akt ist individueller“, sagt Roy. Der Angreifer auf die ehemaligen „Charlie-Hebdo“-Redaktionsräume diesen Herbst kam aus Pakistan, der Mörder von Samuel Paty hatte tschetschenische Wurzeln. Der Angreifer von Nizza kam aus Tunesien.
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat es sich nun zum Ziel gesetzt, den radikalen Islamismus dort zu bekämpfen, wo junge Menschen in seine Fänge geraten – in radikalen Moscheen, außerhalb der Schule oder im Internet. Mit seiner Politik und Haltung zog Macron die Wut von Muslimen in einigen Ländern auf sich, der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan heizte den Konflikt noch an. Und noch eine andere Krise hat Frankreich fest im Griff: das Coronavirus. Und so fällt das Gedenken an die Anschläge vor fünf Jahren in diesem Jahr viel kleiner aus.