Auf den Kanaren droht ein neues Flüchtlingsdrama
Immer mehr Migranten aus Afrika wagen die lebensgefährliche Fahrt über den Atlantik. Auch wegen Corona nehmen sie das Risiko auf sich.
(dpa) Das verwüstete Moria, Migranten in Seenot vor Italien oder am Grenzfluss zwischen der Türkei und Griechenland – Bilder wie diese prägen die Berichterstattung über das Schicksal von Migranten. Aber rund 4000 Kilometer entfernt vom abgebrannten Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos braut sich im Atlantik eine neue Krise zusammen. Seit Jahresbeginn erreichten knapp 14 000 Migranten die zu Spanien gehörenden Kanarischen Inseln vor der Westküste Afrikas. Das waren nach Angaben des spanischen Innenministeriums fast siebenmal so viele wie im Vorjahreszeitraum.
Die Inselgruppe dürfe nicht zu einem Lampedusa Spaniens werden, warnte der Vizeregierungschef der Kanaren, Roman Rodríguez, unlängst. Zwar sind die Kanaren mit 2,15 Millionen Einwohnern viel größer als Lampedusa, wo nur 4500 Menschen leben. Aber die Zahl ankommender Migranten ist ähnlich. Auf die süditalienische Insel kamen seit Januar 16 000 Bootsflüchtlinge.
Die Überfahrt von Afrika zu den Kanaren gilt als eine der gefährlichsten überhaupt. Die Menschen starten in Marokko, dem Senegal, Gambia, Mauretanien, Guinea-Bissau oder sogar im rund 2400 Kilometer entfernten Guinea. Die meisten der offenen Holzboote können der stürmischen See des Atlantiks kaum etwas entgegensetzen.
Nach Informationen der UN-Migrationsorganisation IOM starben 2020 auf dieser Route bereits mehr als 400 Menschen – doppelt so viele wie im Vorjahr. Am Donnerstag berichtete sie von einer weiteren Tragödie – diesmal vor der Küste Libyens, wo mehr als 90 Menschen ertranken. Das wahre Ausmaß der Tragödien auf See dürfte schlimmer sein als bekannt. „Durch die sehr niedrige Erfolgsquote erreichen nur wenige Menschen die Kanarischen Inseln“, schreibt die Organisation. Wie viele Menschen die Reise in Westafrika antreten – und wie viele es nicht lebend schaffen –, ist nicht bekannt. Medien berichteten etwa von einem 17-Jährigen aus Marokko, auf dessen Irrfahrt über den Atlantik 16 Mitfahrende verdurstet seien. Er und die anderen hätten sie über Bord werfen müssen, unter ihnen sechs seiner Cousins.
„Die eine Sorge ist das Risiko des Sterbens“, sagt Nassima Clerin, IOM-Expertin in Senegal. „Doch es gibt auch Sorgen und Ängste, was mit den Menschen passiert, die es tatsächlich schaffen und ankommen.“Auf den Kanaren ist die Lage in der Hafenstadt Arguineguín im Südwesten Gran Canarias am schwierigsten. Auf der Hafenmole lagerten am vergangenen Wochenende mehr als 2000 Neuankömmlinge, die hygienischen Verhältnisse waren schlimm. Dieses Wochenende demonstrierten auf der Insel rund 150 Menschen per Autokorso für die Rechte von Immigranten, die Bischöfe der Kanaren verfassten einen Appell an die Öffentlichkeit.
Eigentlich sollen die Migranten binnen 72 Stunden registriert und auf Corona getestet werden. Aber die Behörden sind überfordert und der Unmut in der Bevölkerung wächst. Andere Demos warnten schon vor einer „Invasion“.
Was treibt immer mehr Menschen auf die gefährliche Reise? Experten glauben, dass es mit der Verschiebung der Migrationsrouten zu tun hat – auch wegen coronabedingter Grenzschließungen, etwa in allen Sahel-Staaten. Die Pandemie hat auch die Not der Menschen verstärkt – und den Wunsch auszuwandern. Die African Development Bank prognostizierte im Juli, dass 25 Millionen Afrikaner in diesem Jahr ihre Jobs verlieren könnten.
Die meisten Migranten, die auf den Kanaren ankommen, hoffen nach Angaben Clerins, auf das Festland Spaniens oder sogar weiter in andere Länder Europas zu reisen. Doch wegen der Corona-Lage sei das derzeit schwierig. Und so bleiben sie auf den Kanaren. „Sie sind quasi dort gestrandet“, sagt Clerin.
Auf Gran Canaria ist die Lage zurzeit am schwierigsten.