Saarbruecker Zeitung

Auf den Kanaren droht ein neues Flüchtling­sdrama

Immer mehr Migranten aus Afrika wagen die lebensgefä­hrliche Fahrt über den Atlantik. Auch wegen Corona nehmen sie das Risiko auf sich.

- VON JAN-UWE RONNEBURGE­R, GIOIA FORSTER UND MICHEL WINDE

(dpa) Das verwüstete Moria, Migranten in Seenot vor Italien oder am Grenzfluss zwischen der Türkei und Griechenla­nd – Bilder wie diese prägen die Berichters­tattung über das Schicksal von Migranten. Aber rund 4000 Kilometer entfernt vom abgebrannt­en Flüchtling­slager Moria auf der griechisch­en Insel Lesbos braut sich im Atlantik eine neue Krise zusammen. Seit Jahresbegi­nn erreichten knapp 14 000 Migranten die zu Spanien gehörenden Kanarische­n Inseln vor der Westküste Afrikas. Das waren nach Angaben des spanischen Innenminis­teriums fast siebenmal so viele wie im Vorjahresz­eitraum.

Die Inselgrupp­e dürfe nicht zu einem Lampedusa Spaniens werden, warnte der Vizeregier­ungschef der Kanaren, Roman Rodríguez, unlängst. Zwar sind die Kanaren mit 2,15 Millionen Einwohnern viel größer als Lampedusa, wo nur 4500 Menschen leben. Aber die Zahl ankommende­r Migranten ist ähnlich. Auf die süditalien­ische Insel kamen seit Januar 16 000 Bootsflüch­tlinge.

Die Überfahrt von Afrika zu den Kanaren gilt als eine der gefährlich­sten überhaupt. Die Menschen starten in Marokko, dem Senegal, Gambia, Mauretanie­n, Guinea-Bissau oder sogar im rund 2400 Kilometer entfernten Guinea. Die meisten der offenen Holzboote können der stürmische­n See des Atlantiks kaum etwas entgegense­tzen.

Nach Informatio­nen der UN-Migrations­organisati­on IOM starben 2020 auf dieser Route bereits mehr als 400 Menschen – doppelt so viele wie im Vorjahr. Am Donnerstag berichtete sie von einer weiteren Tragödie – diesmal vor der Küste Libyens, wo mehr als 90 Menschen ertranken. Das wahre Ausmaß der Tragödien auf See dürfte schlimmer sein als bekannt. „Durch die sehr niedrige Erfolgsquo­te erreichen nur wenige Menschen die Kanarische­n Inseln“, schreibt die Organisati­on. Wie viele Menschen die Reise in Westafrika antreten – und wie viele es nicht lebend schaffen –, ist nicht bekannt. Medien berichtete­n etwa von einem 17-Jährigen aus Marokko, auf dessen Irrfahrt über den Atlantik 16 Mitfahrend­e verdurstet seien. Er und die anderen hätten sie über Bord werfen müssen, unter ihnen sechs seiner Cousins.

„Die eine Sorge ist das Risiko des Sterbens“, sagt Nassima Clerin, IOM-Expertin in Senegal. „Doch es gibt auch Sorgen und Ängste, was mit den Menschen passiert, die es tatsächlic­h schaffen und ankommen.“Auf den Kanaren ist die Lage in der Hafenstadt Arguineguí­n im Südwesten Gran Canarias am schwierigs­ten. Auf der Hafenmole lagerten am vergangene­n Wochenende mehr als 2000 Neuankömml­inge, die hygienisch­en Verhältnis­se waren schlimm. Dieses Wochenende demonstrie­rten auf der Insel rund 150 Menschen per Autokorso für die Rechte von Immigrante­n, die Bischöfe der Kanaren verfassten einen Appell an die Öffentlich­keit.

Eigentlich sollen die Migranten binnen 72 Stunden registrier­t und auf Corona getestet werden. Aber die Behörden sind überforder­t und der Unmut in der Bevölkerun­g wächst. Andere Demos warnten schon vor einer „Invasion“.

Was treibt immer mehr Menschen auf die gefährlich­e Reise? Experten glauben, dass es mit der Verschiebu­ng der Migrations­routen zu tun hat – auch wegen coronabedi­ngter Grenzschli­eßungen, etwa in allen Sahel-Staaten. Die Pandemie hat auch die Not der Menschen verstärkt – und den Wunsch auszuwande­rn. Die African Developmen­t Bank prognostiz­ierte im Juli, dass 25 Millionen Afrikaner in diesem Jahr ihre Jobs verlieren könnten.

Die meisten Migranten, die auf den Kanaren ankommen, hoffen nach Angaben Clerins, auf das Festland Spaniens oder sogar weiter in andere Länder Europas zu reisen. Doch wegen der Corona-Lage sei das derzeit schwierig. Und so bleiben sie auf den Kanaren. „Sie sind quasi dort gestrandet“, sagt Clerin.

Auf Gran Canaria ist die Lage zurzeit am schwierigs­ten.

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