Walter Lübckes Witwe drängt auf Antworten
Die Frau des getöteten Kasseler Regierungspräsidenten will vom vermeintlichen Täter die Wahrheit über die letzten Minuten im Leben ihres Mannes erfahren.
(dpa) Irmgard Braun-Lübcke hat ihre Zeugenaussage vor dem Staatsschutzsenat des Oberlandesgericht (OLG) Frankfurt am Montag gefasst und mit fester Stimme begonnen. Doch als die Frau des getöteten Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke auf die Tatnacht im Juni 2019 zu sprechen kommt, als sie die Folgen des Verbrechens für sie und die ganze Familie schildert, da bricht ihre Stimme wiederholt. Die rechte Hand der ehemaligen Lehrerin ballt sich um ein Taschentuch, als sie über den Mann spricht, mit dem sie fast 40 Jahre lang verheiratet war. „Er fehlt uns unendlich“, sagt sie. „Er hatte Pläne. Das ist ihm alles genommen worden durch einen ganz fiesen Mord.“Bei diesen Worten sackt Stephan Ernst, der mutmaßliche Mörder von Walter Lübcke, regelrecht in sich zusammen, wischt sich wiederholt die Augen.
Wie bereits in der Zeugenaussage von Jan-Hendrik Lübcke, der seinen leblosen Vater auf der Terrasse des Wohnhauses gefunden hatte, steht in der Zeugenaussage von Braun-Lübcke der Mensch Walter Lübcke im Vordergrund. Er sei ein fröhlicher, lebensbejahender Mensch gewesen, getragen von einer christlichen Einstellung, der es im bevorstehenden Ruhestand ruhiger angehen lassen wollte.
Als sich seine Frau am Tatabend verabschiedet hatte, um sich um das erstmals bei den Großeltern übernachtende Enkelkind zu kümmern, suchte Lübcke nach möglichen Zielen für eine spontane Kurzreise am kommenden Tag – die Rhön oder das Steinhuder Meer standen zur Debatte. Der Stuhl auf der Terrasse, in dem er erschossen wurde, sei der Lieblingsplatz von Walter Lübcke gewesen, wo das Paar häufig zusammen gesessen habe, wo er mit einer letzten Zigarette den Tag ausklingen ließ.
Schüsse hatte Irmgard Braun-Lübcke in jener Nacht nicht gehört. Sie wurde aus dem Schlaf gerissen, als sie ihren Sohn weinen und „Mama, Mama“rufen hörte, sagt sie in ihrer Zeugenaussage. „Da wusste ich, irgendwas war passiert“, sagt die auch als Nebenklägerin auftretende Witwe und kämpft um Selbstbeherrschung. „Aber doch kein Mord!“
Dass ihr Mann nicht, wie zunächst gedacht, an einem Herzinfarkt gestorben, sondern durch eine Gewalttat ums Leben gekommen sei, mache alles nur noch schlimmer für sie und ihre Familie. „Das Haus ist nicht mehr das Haus, das Leben ist nicht mehr das Leben.“Umso mehr ist Braun-Lübcke, wie auch ihre Söhne, auf der Suche nach der „vollen Wahrheit“, nach den letzten Sekunden, der letzten Minute im Leben von Walter Lübcke. Was habe er gesehen, gab es einen Blickkontakt, gab es einen letzten Wortwechsel? „Ich will die volle Wahrheit, die würde uns vielleicht helfen, das etwas besser zu verarbeiten“, sagt Braun-Lübcke unter Tränen. „Wir brauchen das, das ist ganz wichtig.
Tränen flossen auch bei dem sichtlich aufgewühlten Stephan Ernst. „Es tut mir leid, es tut mir unendlich leid“, versichert der 47-jährige Deutsche mit brechender Stimme und schaut Braun-Lübcke direkt ins Gesicht. Zuvor hatte er jeglichen Blickkontakt vermieden und nach unten geschaut, während der wegen Beihilfe angeklagte Markus H. immer wieder zu der Zeugin herüberblickte und sich Notizen machte.
Die Rolle von H., der laut Anklage Ernst politisch beeinflusst haben soll, treibt auch die Familie Lübcke um. Er soll ein Video mit Ausschnitten einer Bürgerversammlung im Internet verbreitet haben, bei der sich Lübcke 2015 für den Bau einer Flüchtlingsunterkunft eingesetzt hatte. In der Folge hatte der CDU-Politiker Drohungen erhalten. „Auf Worte folgen Taten“, sagt Braun-Lübcke am Montag in ihrer Zeugenaussage. „Er hat etwas erzeugt, er ist mitverantwortlich – so sehen wir das.“