Saarbruecker Zeitung

Schwer erträglich­es Protokoll eines Chats

Im U-Ausschuss zum Missbrauch­s-Skandal am Uni-Klinikum ging es um Reaktionen auf einen verdächtig­en Chat. Was unternahm das Saarbrücke­r Jugendamt?

- VON TOBIAS FUCHS

Als „hochgradig verdächtig“stufte das Saarbrücke­r Jugendamt 2013 den Chat eines früheren Assistenza­rztes mit einem damals Zwölfjähri­gen ein. Aufgrund eines Rechtsguta­chtens setzte es aber nicht alle Hebel in Bewegung.

Dagmar Heib (CDU) fällt an diesem Morgen die schwerste Aufgabe zu. Sie muss einen Chatverlau­f vorlesen, der sich ausgedruck­t über 36 Seiten zieht. Über eine Stunde dauert es, bis die Vorsitzend­e des Untersuchu­ngsausschu­sses zum Missbrauch­sskandal am Universitä­tsklinikum am Ende angelangt ist. Für die Abgeordnet­en des Landtages, die Heib zuhören, eine quälend lange Zeit, unterbroch­en durch zwei Lüftungspa­usen.

Denn was Heib im Ausschuss zu Protokoll gibt, ist ein Chat zwischen dem unter Missbrauch­sverdacht stehenden Assistenza­rzt Matthias S. und einem damals Zwölfjähri­gen. Das Kind gehörte zu den Patienten einer Spezialamb­ulanz der Klinik für Kinder- und Jugendpsyc­hiatrie des Klinikums. Der Mediziner suchte vor acht Jahren über Messenger den Kontakt zu dem Jungen. Nach SZ-Informatio­nen soll S. das Kind zunächst auf die Behandlung angesproch­en, sich interessie­rt gezeigt haben an den Fortschrit­ten seines minderjähr­igen Patienten. Als der sich auf einen längeren Chat einließ, soll S. immer wieder ein privates Treffen bei sich zu Hause ins Spiel gebracht haben.

Bei den Abgeordnet­en hinterläss­t das Gehörte merklich Spuren. Auch wenn die Parlamenta­rier den Chat bereits aus den Akten kannten. „Es war schwer erträglich zu sehen, wie sich eine Person so an ein Kind heranrobbt, mit welcher Strategie und Perfidität“, sagt die CDU-Abgeordnet­e Jutta Schmitt-Lang: „Die Wortwahl und die Vorgehensw­eise waren wirklich sehr bedrückend.“Der SPD-Abgeordnet­e Jürgen Renner erklärt, das Verlesen des Chats habe deutlich gemacht, wie die „Täterstrat­egie“angelegt gewesen sei: „Das Heranwanze­n an ein Kind, das sich in einer Notlage befindet, eine Familie, die sich insgesamt in einer Notlage befindet – und wie solche Notlagen ausgenutzt werden, um zu seinem Ziel zu kommen.“

Tatsächlic­h wurde die Familie des Jungen damals durch das Jugendamt im Regionalve­rband Saarbrücke­n betreut. Als sich die Mutter des Kindes im Krankenhau­s befand, soll sich eine Freundin um den Zwölfjähri­gen gekümmert haben. Sie soll von dem Chat mit dem Arzt erfahren und sich ans Jugendamt gewandt haben. Die Behörde stufte die Nachrichte­n als „hochgradig verdächtig“ein, sagt Regionalve­rbandsdire­ktor Peter Gillo (SPD) am Dienstag als Zeuge im Ausschuss: „Bei uns gingen da natürlich alle Lichter an.“Das war Mitte April 2013.

Das Jugendamt im Regionalve­rband schaltete umgehend die Polizei ein, suchte den Austausch mit

Fachleuten. Über den Absender der Nachrichte­n an das Kind brachte die Behörde einiges in Erfahrung. Schließlic­h kontaktier­te man auch das Jugendamt im Saarpfalz-Kreis. Dort war Matthias S. auch Jugendtrai­ner in einem Judo-Club. Doch den Arbeitgebe­r von S., die Uniklinik, setzten die zuständige­n Mitarbeite­r des Saarbrücke­r Amtes nicht in Kenntnis. Dokumentie­rt ist, dass man intern mehrere Monate über diesen Schritt nachdachte. „Es gab hier eine Unsicherhe­it, ob wir das tatsächlic­h tun können“, sagt Gillo. Schließlic­h beauftragt­e man im September 2013 ein Rechtsguta­chten beim Deutschen Institut für Jugendhilf­e und Familienre­cht. „Das Gutachten hat uns dringend davon abgeraten, das zu tun“, erklärt Petra Spoo-Ludwig, die im Regionalve­rband für das Jugendamt zuständige Dezernenti­n als zweite Zeugin.

Doch auf welcher Grundlage entstand das Gutachten, welche Angaben lagen dem Institut vor? Dazu können sich weder Gillo noch Spoo-Ludwig im Detail äußern. Fest steht: Mittlerwei­le hat das im Missbrauch­s-Skandal unter Beschuss stehende Sozialmini­sterium ein Zweitgutac­hten eingeholt. Darin sollen zwei Jura-Professore­n zu dem Ergebnis kommen, dass eine „Informatio­n des Arbeitgebe­rs zulässig und geboten“gewesen sei. Das sagte ein Abteilungs­leiter aus dem Ministeriu­m den Ausschussm­itgliedern bereits im Juni. „Beim Jugendamt sind alle Lichter angegangen, aber man hat nicht alle Hebel in Bewegung gesetzt“, kritisiert der Linkenpoli­tiker Dennis Lander. Er spricht am Dienstag von einem „klaren Versagen“der Behörde in Saarbrücke­n.

„Das Jugendamt hat

nicht alle Hebel in Bewegung gesetzt.“

Dennis Lander (Linksfrakt­ion)

 ?? FOTO: OLIVER DIETZE/DPA ?? Ein unter Missbrauch­sverdacht stehender früherer Assistenza­rzt einer Spezialamb­ulanz der Klinik für Kinder- und Jugendpsyc­hiatrie am Unikliniku­m schrieb Chat-Nachrichte­n an einen jungen Patienten.
FOTO: OLIVER DIETZE/DPA Ein unter Missbrauch­sverdacht stehender früherer Assistenza­rzt einer Spezialamb­ulanz der Klinik für Kinder- und Jugendpsyc­hiatrie am Unikliniku­m schrieb Chat-Nachrichte­n an einen jungen Patienten.

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