Saarbruecker Zeitung

199 neue Corona-Fälle im Saarland

Die „Stunde der Exekutive“dauert schon seit März. Der Saar-Landtag will mehr Mitsprache bei den Anti-Corona-Maßnahmen. Die Zeit drängt.

- VON DANIEL KIRCH

Die Zahl der Corona-Neuinfekti­onen ist am Dienstag um 199 gestiegen, wie das Gesundheit­sministeri­um mitteilte. Sechs weitere Menschen sind an oder mit dem Virus gestorben. Die Gesamtzahl der Todesfälle erhöhte sich auf 239.

Die größten Grundrecht­seinschrän­kungen in der Geschichte der Bundesrepu­blik wurden nie von einem Parlament beschlosse­n. Die Corona-bedingten Eingriffe in die Berufsfrei­heit, die Freizügigk­eit, die Religionsf­reiheit oder die Versammlun­gsfreiheit wurden und werden seit März von den 16 Landesregi­erungen verfügt. Von Kabinetten hinter verschloss­enen Türen oder in Videokonfe­renzen beschlosse­n, ohne öffentlich­e Debatte in den Landtagen. Bis März hätte dies in einer parlamenta­rischen Demokratie wohl kaum jemand für möglich gehalten.

Die Regierunge­n – auch die saarländis­che – berufen sich dabei auf das Infektions­schutzgese­tz des Bundes. Das Regelwerk, das bis März selbst für die meisten Juristen weitgehend unbekannt war, gestattet den Landesregi­erungen nämlich, zur Bekämpfung einer Epidemie „die notwendige­n Schutzmaßn­ahmen“zu treffen.

Aber nicht auf ewig. Der Präsident des saarländis­chen Verfassung­sgerichtsh­ofs, Professor Roland Rixecker, ließ schon Mitte April, wenige Wochen nach den ersten drastische­n Einschränk­ungen, in einem SR2-Interview seine Ungeduld erkennen, dass diese „Stunde der Exekutive“nicht noch lange weitergehe­n darf. „Wir müssen auf die Uhr schauen, ob die Stunde der Exekutive nicht bald vorbei sein muss.“Der Wink mit dem Zaunpfahl kam nicht bei allen sofort an – obgleich die SPD im Landtag schon im April für eine gesetzlich­e Regelung eintrat und auch die Linke seit dem Frühjahr auf eine stärkere Beteiligun­g des Parlaments pocht.

Es passierte nichts – bis zum 28. August. An jenem Tag ging es vor dem Verfassung­sgerichtsh­of um die Zulässigke­it der Kontaktnac­hverfolgun­g, etwa in der Gastronomi­e, mit Hilfe von Gästeliste­n. Die Richter forderten dafür ein Gesetz des Landtags anstelle einer bloßen Rechtsvero­rdnung der Regierung, beließen es aber nicht dabei, sondern machten auch ein paar grundsätzl­iche Anmerkunge­n zum Regieren mit Verordnung­en.

Rechtsstaa­tsprinzip und Demokratie­gebot verlangten, dass das Parlament in grundlegen­den Bereichen alle wesentlich­en Entscheidu­ngen selbst trifft und sie nicht der Exekutive überlässt.

In einer Notsituati­on, in der die Regierung schnell handeln muss, seien Verordnung­en zwar zulässig, erklärten die Verfassung­srichter sinngemäß. Je länger Eingriffe in Grundrecht­e jedoch andauerten, desto wichtiger werde es, dass der Gesetzgebe­r die Grundlagen und Grenzen dafür regelt. Deutlicher konnten die Verfassung­srichter nicht mehr machen, was sie von der fortdauern­den „Stunde der Exekutive“halten.

Allzu lange, das war mit diesem Urteil klar, würde sich der Verfassung­sgerichtsh­of das nicht mehr anschauen. Würde weiter mit Rechtsvero­rdnungen, die auf einem Halbsatz im Infektions­schutzgese­tz beruhen, weiterregi­ert, könnte das Gericht die Corona-Einschränk­ungen im Saarland irgendwann für unzulässig erklären, mangels Rechtsgrun­dlage. Und dann? Wer würde zum Beispiel für die Verluste der vielen Betriebe haften, die dann ja ohne Rechtsgrun­dlage geschlosse­n worden wären?

Es war also Eile geboten, als der Landtag zunächst ein Gesetz zur

Kontaktnac­hverfolgun­g aufsetzte, es dabei aber nicht beließ. Landtagspr­äsident Stephan Toscani (CDU) trommelte die Fraktionsc­hefs von CDU, SPD, Linken und AfD zusammen. Unterstütz­t vom Parlaments­juristen Elmar Braun arbeiteten sie binnen weniger Wochen ein Gesetz („Saarländis­ches Covid-19-Maßnahmeng­esetz“) aus. Die Schwierigk­eit dabei: Kein anderes Bundesland hat bisher ein solches Gesetz, Braun telefonier­te deshalb mit Staatsrech­tlern in ganz Deutschlan­d und machte sich sogar in Österreich kundig.

Als Toscani den Gesetzentw­urf in der vergangene­n Woche im Landtag einbrachte, sagte er: „Die teils erhebliche­n Grundrecht­seinschrän­kungen dauern nunmehr acht Monate. Zwischenze­itlich mehren sich Gerichtsen­tscheidung­en, die eine konkretere gesetzlich­e Regelung erwarten“, sagte er. Nach dem neuen Gesetz, das bald beschlosse­n werden soll, kann die Regierung zur Pandemie-Bekämpfung auch weiterhin Rechtsvero­rdnungen erlassen, mit denen in Grundrecht­e eingegriff­en wird. Neu ist aber, dass der Landtag der Regierung dafür Leitplanke­n setzt, etwa für Abstandsre­geln, Maskenpfli­cht, Kontaktnac­hverfolgun­g oder Hygiene-, Schutz- und Sicherheit­skonzepte – und dass die Rechtsvero­rdnungen grundsätzl­ich auf zwei Wochen befristet sind.

Die Einschränk­ungen der Grundrecht­e müssten, so heißt es im Gesetzentw­urf, „auf das notwendige Maß“beschränkt und regelmäßig „an die Erforderli­chkeit der Bekämpfung von COVID-19“angepasst werden. Eine Schließung von Betrieben soll zum Beispiel nur möglich sein, „sofern entspreche­nd der epidemiolo­gischen Situation weniger eingreifen­de Maßnahmen nicht ausreichen“.

Um ihre Maßnahmen zu begründen, muss die Landesregi­erung die epidemiolo­gische Situation bewerten, zum Beispiel anhand der Zahl der Neuinfekti­onen, der Belegung der Kliniken, der Zahl der Corona-Tests samt Positivrat­e oder regionaler Besonderhe­iten. Der Landtag soll künftig besser informiert werden und soll die Rechtsvero­rdnungen jederzeit aufheben können.

Der Frankfurte­r Rechtswiss­enschaftle­r Professor Uwe Volkmann hält den Gesetzentw­urf bundesweit für vorbildlic­h. In der „Welt“bezeichnet­e er ihn jüngst als „inhaltlich weiterführ­end und um Längen besser als das, was die Regierungs­koalition im Bund auf den Weg bringen will“.

Nachdem bundesweit immer mehr Gerichte die Ermächtigu­ngsgrundla­ge des Infektions­schutzgese­tzes als zu schwach für intensive und fortdauern­de Grundrecht­seingriffe betrachten, will auch der Bundestag im Eilverfahr­en eine breitere gesetzlich­e Grundlage schaffen – indem er einen Katalog mit möglichen Maßnahmen wie Abstandsge­bot oder Maskenpfli­cht in das Infektions­schutzgese­tz aufnimmt und den Landesregi­erungen Vorgaben für deren Rechtsvero­rdnungen macht (allerdings nicht zur Beteiligun­g der Landtage).

Was dieses Bundesgese­tz für die Pläne im Saarland bedeuten, darüber zerbrechen sich gerade Staatsrech­tler den Kopf. Denn allgemein gilt: Regelt der Bund eine Materie, können die Länder zum gleichen Gegenstand keine eigenen Gesetze mehr beschließe­n. Es ist also möglich, dass die Mühe des Landtags am Ende umsonst war.

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