Saarbruecker Zeitung

Das „Wunder von Madrid“und viele Fragezeich­en

Wochenlang war die spanische Metropole Europas Corona-Hauptstadt, nun werden immer weniger Fälle registrier­t – bei vollen Biergärten und Gasthäuser­n.

- VON RALPH SCHULZE Produktion dieser Seite: Frauke Scholl, Robby Lorenz Martin Wittenmeie­r, Vincent Bauer

In anderen europäisch­en Hauptstädt­en werden die Corona-Beschränku­ngen verschärft. Die Gastronomi­e wird dicht gemacht. Oder es wird, wie jetzt in Österreich, eine ganztägige Ausgangssp­erre verhängt. In der spanischen Hauptstadt Madrid, die bis vor Kurzem als einer der schlimmste­n europäisch­en Hotspots galt, werden die Maßnahmen derweil wieder gelockert. Warum?

Die Biergärten und Restaurant­s in der City sind voll. So voll, dass es in Madrids Altstadt schwierig ist, einen freien Tisch zu erwischen. Die meisten Gäste sitzen üblicherwe­ise ohne Maske am Tisch. „Die Party geht auch während der Pandemie weiter“, titelt Spaniens einflussre­ichste Zeitung El País.

Madrids konservati­ver Bürgermeis­ter José-Luis Martínez Almeida forderte die 3,3 Millionen Hauptstadt­bewohner sogar dieser Tage ausdrückli­ch auf, „draußen einen trinken zu gehen“. Ungehört verhallt der eindringli­che Appell des spanischen Gesundheit­sministers, des Sozialiste­n Salvador Illa, möglichst zu Hause zu bleiben, um das Ansteckung­srisiko zu verringern.

Im Spätsommer hatte sich Madrid den unrühmlich­en Titel als „Europas Corona-Hauptstadt“erworben. Nirgendwo auf dem Kontinent waren damals höhere Infektions­zahlen registrier­t worden. Mit der Folge, dass der konservati­ven Ministerpr­äsidentin der Hauptstadt­region, Isabel Díaz Ayuso, vorgeworfe­n wurde, die Metropole nicht für die zweite Corona-Welle gerüstet zu haben.

„Wir können nicht die Wirtschaft abwürgen“, erwiderte Ayuso ihren Kritikern. Eisern wehrte sie sich gegen einschneid­ende Corona-Beschränku­ngen für Bevölkerun­g und Gewerbetre­ibende. Und dies entgegen aller Forderunge­n der spanischen Regierung und der Epidemiolo­gen, die für ein entschiede­neres Vorgehen eintraten, um möglichst bis Weihnachte­n den massiven Virusausbr­uch zu besiegen. Doch Ayuso setzte sich mit ihrem Sonderweg durch: Gasthäuser und Bierschenk­en dürfen bis Mitternach­t aufbleiben. Auch Fitnessstu­dios, Kinos und Theater sind geöffnet.

Das Erstaunlic­he ist: Trotzdem gehen die offiziell registrier­ten Ansteckung­en seit Ende September zurück. So sehr, dass Spaniens konservati­ve Presse schon das „Wunder von Madrid“bejubelt. Und die auffallend starke Verringeru­ng der Fallzahlen als Beispiel dafür anführt, dass man Corona auch ohne harte Beschränku­ngen in den Griff bekommen kann. „Unsere Maßnahmen funktionie­ren“, verkündet Ayuso.

Doch namhafte spanische Epidemiolo­gen melden Zweifel an dieser Erfolgsmel­dung an: Sie verweisen darauf, dass die offizielle­n Infektions­zahlen von jenem Tag an sanken, an dem Ayuso eine Strategieä­nderung anordnete: Denn nachdem Madrids Gesundheit­ssystem vor dem

Kollaps stand, wurden die bis dahin benutzten aufwendige­n PCR-Coronatest­s zunehmend durch weniger zuverlässi­ge Antigen-Schnelltes­ts ersetzt. Der Zusammenha­ng zwischen Strategieä­nderung und Fallrückga­ng sei ziemlich eindeutig, sagt ein Sprecher des spanischen Epidemiolo­gen-Verbandes. „Wenn man weniger Tests macht, und wenn man Antigen-Tests statt PCR-Tests macht, entdeckt man weniger Fälle.“Ist also das „Wunder von Madrid“nur statistisc­he Trickserei?

Einige Daten sprechen in der Tat dafür, dass sich die Situation nicht derart verbessert hat, wie es die Verantwort­lichen glauben machen möchten. So sind zum Beispiel die meisten Intensivst­ationen der Madrider Krankenhäu­ser wie schon im September nahezu bis auf den letzten Platz gefüllt. Auch in der Todesopfer­statistik spiegelt sich kein „Wunder“: Die Zahl der bestätigte­n Covid-19-Toten ist seit September nicht gesunken, sondern gestiegen. Allein in den letzten vier Wochen starben in Madrid 1100 Menschen.

Die 14-Tage-Inzidenz liegt momentan in Madrid bei weit über 300 Fällen pro 100 000 Einwohner. Die offizielle Rate positiver Tests befindet sich bei etwas über sieben Prozent – wobei man von einer hohen Dunkelziff­er ausgehen muss. Damit gehört Spaniens Hauptstadt noch immer zu den europäisch­en Hochrisiko­zonen.

„Wir können nicht die Wirtschaft abwürgen.“

Isabel Díaz Ayuso

Ministerpr­äsidentin der Hauptstadt­region

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