Das Weiterleben der missbrauchten Kinder
Wie leben mit dem sexuellen MIssbrauch? Der meisterhafte Film „Mysterious Skin“erscheint als mustergültige Edition fürs Heimkino.
Man kann es nicht oft genug sagen: Hut ab vor den kleinen, ambitionierten Heimkino-Firmen, die rare Kinoperlen veröffentlichen und mit wirklich wertvollem Bonusmaterial veredeln, auf dass man sich im Film versenken kann. „Bildstörung“etwa gehört zu diesen Filmerbe-Pflegern und auch die Firma „Camera Obscura“, die ein Meisterwerk des US-Kinos herausgebracht hat, einen Film, den man nicht vergisst: „Mysterious Skin“, 2004 inszeniert von Gregg Araki nach der Romanvorlage „Unsichtbare Narben“von Scott Heim. Es ist ein Film der Extreme – mal todtraurig, mal überraschend witzig, mal von enormer Zärtlichkeit, mal von erschreckender Brutalität. Um zwei achtjährige Jungen in einer Baseballmannschaft im US-Hinterland der 1980er Jahre geht es – beide werden von ihrem Trainer sexuell missbraucht, jeder Junge
versucht auf seine Weise, damit zu leben. Den Eltern offenbart sich keiner der beiden. Brian verdrängt den Missbrauch so gut es geht, leidet an Ohnmachtsanfällen und Gedächtnisstörungen, bis er dafür eine für ihn schlüssige Erklärung (er)findet: Könnte es sein, dass Außerirdische ihn entführt haben, um an seinem Körper zu experimentieren? Der homosexuelle Neil findet eine andere aus der Seelennot geborene Taktik der Bewältigung: Er flüchtet sich in eine imaginierte Romanze mit dem Trainer, in den er sich vor dem Missbrauch verliebt hatte, und deutet jede Missbrauchshandlung um zu einem Liebesbeweis.
Der Film, der den Missbrauch nicht explizit zeigt, zeichnet die Figur des Täters nicht als rohes Monster, sondern als noch Schlimmeres: Der Trainer, der ein wenig ausschaut wie ein junger Robert Redford, erschleicht sich das Zutrauen der Jungen mit endlosen Süßigkeiten, mit Computer-Spielen am TV, er präsentiert sich wie ein Freund, wie ein Spielkamerad auf Augenhöhe. Diese Szenen sind schwer zu ertragen.
„Mysterious Skin“springt dann einige Jahre nach vorne, die beiden Opfer werden nun von jungen Männern gespielt ( Joseph Gordon-Levitt und Brady Corbet). Brian ist ein in sich gekehrter Teenager, mit wenigen Freunden, aber mit Kontakt zu einer jungen Frau, die ebenfalls glaubt, von Aliens entführt worden zu sein. Neil verdingt sich derweil als Stricher und ist innerlich erkaltet. „Wo andere ein Herz haben, hat er ein großes schwarzes Loch“, sagt sein bester Freund. Neil verlässt die Provinz, geht nach New York und erlebt Gewalt bis hin zur Vergewaltigung. Zuhause im Hinterland begegnen sich die beiden Leidensgenossen zum ersten Mal seit dem Missbrauch – die Chance einer Bewältigung der Erlebten?
Tief berührend und oft erschütternd ist dieser Film, der von Freundschaft und Traumata erzählt. Erstaunlich, wie Regisseur Araki hier die verschiedenen Stimmungen zwischen Melancholie und vagem Optimismus, Verzweiflung und Aufbruchstimmung, die Situationen zwischen Zärtlichkeit und Gewalt ohne filmische Brüche miteinander verbindet. Vieles ist hier zum Fürchten, manches zum Heulen: Die Nacht des Strichers etwa bei einem Kunden in New York, der keinen Sex will, sondern nur eine Massage des Rückens – er leidet an Aids, und niemand will ihn mehr anfassen.
Im exzellenten und sehr reichhaltigen Bonusmaterial, darunter Interviews und Audiokommentare, erklärt Araki, wie er die Missbrauchsszenen drehte, ohne die Kinder zu verstören: Sie kannten nicht das gesamte Drehbuch, die Eltern waren vor Ort, und die entscheidenden Einstellungen entstanden ohne den Darsteller des Täters – erst die kunstvolle Montage führt das alles zusammen zu einem Film, der lange nachhallt.
Blu-ray erschienen bei Camera Obscura.