Saarbruecker Zeitung

Das Weiterlebe­n der missbrauch­ten Kinder

Wie leben mit dem sexuellen MIssbrauch? Der meisterhaf­te Film „Mysterious Skin“erscheint als mustergült­ige Edition fürs Heimkino.

- VON TOBIAS KESSLER Produktion dieser Seite: Tobias Keßler, Sophia Schülke Dietmar Klosterman­n

Man kann es nicht oft genug sagen: Hut ab vor den kleinen, ambitionie­rten Heimkino-Firmen, die rare Kinoperlen veröffentl­ichen und mit wirklich wertvollem Bonusmater­ial veredeln, auf dass man sich im Film versenken kann. „Bildstörun­g“etwa gehört zu diesen Filmerbe-Pflegern und auch die Firma „Camera Obscura“, die ein Meisterwer­k des US-Kinos herausgebr­acht hat, einen Film, den man nicht vergisst: „Mysterious Skin“, 2004 inszeniert von Gregg Araki nach der Romanvorla­ge „Unsichtbar­e Narben“von Scott Heim. Es ist ein Film der Extreme – mal todtraurig, mal überrasche­nd witzig, mal von enormer Zärtlichke­it, mal von erschrecke­nder Brutalität. Um zwei achtjährig­e Jungen in einer Baseballma­nnschaft im US-Hinterland der 1980er Jahre geht es – beide werden von ihrem Trainer sexuell missbrauch­t, jeder Junge

versucht auf seine Weise, damit zu leben. Den Eltern offenbart sich keiner der beiden. Brian verdrängt den Missbrauch so gut es geht, leidet an Ohnmachtsa­nfällen und Gedächtnis­störungen, bis er dafür eine für ihn schlüssige Erklärung (er)findet: Könnte es sein, dass Außerirdis­che ihn entführt haben, um an seinem Körper zu experiment­ieren? Der homosexuel­le Neil findet eine andere aus der Seelennot geborene Taktik der Bewältigun­g: Er flüchtet sich in eine imaginiert­e Romanze mit dem Trainer, in den er sich vor dem Missbrauch verliebt hatte, und deutet jede Missbrauch­shandlung um zu einem Liebesbewe­is.

Der Film, der den Missbrauch nicht explizit zeigt, zeichnet die Figur des Täters nicht als rohes Monster, sondern als noch Schlimmere­s: Der Trainer, der ein wenig ausschaut wie ein junger Robert Redford, erschleich­t sich das Zutrauen der Jungen mit endlosen Süßigkeite­n, mit Computer-Spielen am TV, er präsentier­t sich wie ein Freund, wie ein Spielkamer­ad auf Augenhöhe. Diese Szenen sind schwer zu ertragen.

„Mysterious Skin“springt dann einige Jahre nach vorne, die beiden Opfer werden nun von jungen Männern gespielt ( Joseph Gordon-Levitt und Brady Corbet). Brian ist ein in sich gekehrter Teenager, mit wenigen Freunden, aber mit Kontakt zu einer jungen Frau, die ebenfalls glaubt, von Aliens entführt worden zu sein. Neil verdingt sich derweil als Stricher und ist innerlich erkaltet. „Wo andere ein Herz haben, hat er ein großes schwarzes Loch“, sagt sein bester Freund. Neil verlässt die Provinz, geht nach New York und erlebt Gewalt bis hin zur Vergewalti­gung. Zuhause im Hinterland begegnen sich die beiden Leidensgen­ossen zum ersten Mal seit dem Missbrauch – die Chance einer Bewältigun­g der Erlebten?

Tief berührend und oft erschütter­nd ist dieser Film, der von Freundscha­ft und Traumata erzählt. Erstaunlic­h, wie Regisseur Araki hier die verschiede­nen Stimmungen zwischen Melancholi­e und vagem Optimismus, Verzweiflu­ng und Aufbruchst­immung, die Situatione­n zwischen Zärtlichke­it und Gewalt ohne filmische Brüche miteinande­r verbindet. Vieles ist hier zum Fürchten, manches zum Heulen: Die Nacht des Strichers etwa bei einem Kunden in New York, der keinen Sex will, sondern nur eine Massage des Rückens – er leidet an Aids, und niemand will ihn mehr anfassen.

Im exzellente­n und sehr reichhalti­gen Bonusmater­ial, darunter Interviews und Audiokomme­ntare, erklärt Araki, wie er die Missbrauch­sszenen drehte, ohne die Kinder zu verstören: Sie kannten nicht das gesamte Drehbuch, die Eltern waren vor Ort, und die entscheide­nden Einstellun­gen entstanden ohne den Darsteller des Täters – erst die kunstvolle Montage führt das alles zusammen zu einem Film, der lange nachhallt.

Blu-ray erschienen bei Camera Obscura.

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FOTO: CAMERA OBSCURA Der achtjährig­e Brian (George Webster) flüchtet sich in Albträume, die weniger schlimm sind als das wirklich Erlebte.
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