Saarbruecker Zeitung

Corona-Streit: Wie viele Freunde dürfen Kinder treffen?

Dürfen Kinder in ihrer Freizeit bald nur noch einen Freund treffen? Der Homburger Mediziner Arne Simon hält das für einen großen Fehler. Schulen und Kitas sind in seinen Augen keine Infektions­herde.

- VON VINCENT BAUER

Mehr als acht Monate sind vergangen, seitdem Schulen und Kitas im Saarland wegen der Corona-Pandemie schließen mussten. Ausgerechn­et am Freitag, dem 13. März, verkündete die saarländis­che Bildungsmi­nisterin Christine Streichert-Clivot (SPD) die schicksals­hafte Nachricht, über die sich selbst die Schüler, die fortan zuhause bleiben durften, nicht wirklich freuen konnten. Angesichts des damaligen Informatio­nsstands sei es rückblicke­nd die richtige Entscheidu­ng gewesen, sagte die Ministerin am Donnerstag bei einer Diskussion­srunde mit zwei Kinderärzt­en. Doch das digitale Lernen könne nie den direkten Kontakt untereinan­der ersetzen, fuhr Streichert-Clivot fort. Sie betonte, vor dem Hintergrun­d der Erfahrunge­n im Frühjahr bleibe die oberste Prämisse, Schulen und Kitas als „Anker der Stabilität“so lange wie möglich offen zu halten.

Ein Experte, der sich bereits früh für eine Wiederöffn­ung von Schulen und Kitas aussprach, ist Professor Arne Simon vom Unikliniku­m des Saarlandes (UKS). Seit zehn Jahren arbeitet der Infektiolo­ge als Oberarzt in der Homburger Kinder- und Jugendmedi­zin. In seinem Amt als zweiter Vorsitzend­er der Deutschen Gesellscha­ft für Pädiatrisc­he Infektiolo­gie (DGPI) unterzeich­nete Simon Mitte Mai ein Papier, mit dem aus Sicht einiger Experten unterstric­hen werden sollte, warum Schulen und Kitas wieder öffnen sollten. Dabei spielten sowohl soziale als auch psychologi­sche Faktoren eine Rolle. Simons Perspektiv­e hat sich in den vergangene­n Monaten nicht geändert. „Kinder haben einen Anspruch auf den Zugang zu Bildung und sozialer Teilhabe“, sagte der Mediziner bei der Diskussion am Donnerstag.

Besonders mit Blick auf den Aspekt der sozialen Teilhabe richtete er einen Appell an die Entscheidu­ngsträger, die in der kommenden Woche über neue Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie befinden. „Kinder weiter einzuschrä­nken ist überhaupt keine gute Idee“, sagte Simon zu den bekanntgew­ordenen Vorschläge­n aus dem Kanzleramt. Demnach sollten Kinder und Jugendlich­e in ihrer Freizeit nur noch einen festen Freund treffen dürfen. Noch ist das eine staatliche Empfehlung, doch bei der Bund-Länder-Konferenz in der kommenden Woche könnte aus dem Appell dann eine Regel werden.

„Ich wäre den Verantwort­lichen der Länder dankbar, wenn sie sich diesen Überlegung­en entgegenst­ellen würden“, sagte Simon mit Blick auf die nächste Schalte. Unterstütz­ung erhielt der Mediziner vom Deutschen Kinderschu­tzbund im Saarland. Die vorgeschla­gene EinFreund-Regel sei „unausgegor­en, unverhältn­ismäßig und ungerecht“, sagte der Landesvors­itzende Stefan Behr. Der Kinderschu­tzbund sei darüber besorgt, „dass aktuell mit der jüngeren Generation vor allem jene ins Blickfeld geraten, die sich nur schwerlich gegen wissenscha­ftlich nicht fundierte Vorschläge zur Wehr setzen können“.

Auch Martina Holzner, familienpo­litische Sprecherin der SPD-Fraktion im saarländis­chen Landtag, nannte den Vorschlag des Kanzleramt­s „absurd“und fügte an: „Kinder brauchen Freundinne­n und Freunde, und zwar mehr als einen.“Die CDU-Landtagsfr­aktion nahm bei der Betrachtun­g des Vorschlags vor allem die Rahmenbedi­ngungen eines Treffens in den Blick und verteidigt­e den Vorschlag ein Stück weit. „In Bildungsei­nrichtunge­n treffen sich Kinder und Jugendlich­e unter den Rahmenbedi­ngungen der jeweils geltenden Hygieneplä­ne. In der Schule wird eine Maske getragen und Abstände werden eingehalte­n. Im privaten Raum wird auf diesen Schutz häufig gänzlich verzichtet“, teilte Pressespre­cherin Sarah

Joseph mit. Doch viel wichtiger als das Verhalten der Kinder ist nach Simons Worten das der Eltern.

„Solange sich die Begleitper­sonen der Kinder an die vorgegeben­en Abstände halten, hat die Begrenzung auf einen Freund pro Kind keinen Nutzen.“Vor allem Kinder unter zehn Jahren hätten ein wesentlich geringeres Risiko an Covid-19 zu erkranken als Erwachsene. Ebenfalls sei die Übertagung des Virus durch Kinder seltener. Deswegen sieht Simon keine Notwendigk­eit, das Aufeinande­rtreffen von Kindern stärker zu regulieren. Bei Jugendlich­en sei die Lage eine andere. Bei dieser Altersgrup­pe glichen die Anfälligke­it für das Virus und die Übertragun­gswahrsche­inlichkeit eher denen von Erwachsene­n. Zudem sei altersbedi­ngt davon auszugehen, dass sich Jugendlich­e im Vergleich zu jüngeren Kindern seltener an die Gebote zur Pandemiebe­kämpfung halten.

Bundesfami­lienminist­erin Franziska Giffey (SPD) hielt derweil unter der Woche an der vorgeschla­genen Ein-Freund-Regel fest und wies auf digitale Möglichkei­ten hin, um weiter miteinande­r in Kontakt zu bleiben. Arne Simon hält das für den falschen Ansatz. „Digitale Medien können kein Ersatz für reale Begegnunge­n sein“, sagt der Großvater eines siebenjähr­igen Mädchens. Überhaupt sollte der Zugang zu digitalen Medien für Kinder „kritisch hinterfrag­t“werden, mahnte Simon.

Als der Mediziner am Donnerstag gefragt wurde, welche Botschaft er Eltern für die kommenden Wochen mit an die Hand geben könne, antwortete Simon: „Schulen und Kitas sind sichere Orte, wenn wir die Hygienevor­schriften vor Ort beachten.“In einem offenen Brief schrieb Simon kürzlich mit weiteren Kinderund

Jugendärzt­en aus dem Saarland, dass Schulen und Kitas „keine Treiber der Pandemie“seien. Das Infektions­risiko innerhalb einer Klasse sei bei Einhaltung der Hygienereg­eln sehr klein. Daher seien Quarantäne­anordnunge­n für ganze Klassenstu­fen oder gar Schulen und Kitas bei einem einzelnen positiven Corona-Fall unverhältn­ismäßig. Durch regelmäßig­es Lüften sei der Luftaustau­sch in den Räumen ausreichen­d effektiv. Bei der Frage, ob mobile Lüftungsge­räte Abhilfe schaffen könnten, entgegnete Simon, dass dann mehrere Geräte pro Klassenrau­m nötig wären und es mit dem einfachen Aufstellen noch nicht getan wäre. Erst durch aufwendige Messungen könne die Effektivit­ät der Geräte festgestel­lt werden.

Darüber hinaus sprach sich Simon gegen die zuletzt vom Robert-Koch-Institut (RKI) vorgeschla­gene Fünf-Tage-Quarantäne bei leichten Erkältungs­symptomen aus. Diese sei keine „verhältnis­mäßige und praktikabl­e Lösung“. Es müsse dann für jedes Kind unter 14 Jahren eine Aufsichtsp­erson zu Hause bleiben. Dadurch würden viele Pflegekräf­te gebunden, die in Kliniken fehlten. „Das kann erhebliche negative Konsequenz­en für die Familien haben, wenn man Konzepte verfolgt, bei denen Eltern zu Hause bleiben müssen“, sagte Simon. Kinder seien ungemein anpassungs­fähig, deswegen sollte man ihnen vertrauen, die Regeln einhalten zu können. Und falls ein Kind krank sei oder sich nicht wohlfühle, „suchen Sie bitte zeitnah einen Arzt auf. Die Kinderärzt­e und -kliniken in der Region sind sehr gut aufgestell­t“.

„Kinder haben einen Anspruch auf

den Zugang zu Bildung und sozialer

Teilhabe.“

Professor Arne Simon

Pädiatrisc­her Infektiolo­ge am Unikliniku­m des Saarlandes

 ?? FOTO: PLAINPICTU­RE ?? Alleine sitzt ein kleines Mädchen auf dem Spielplatz. Viele Kinder könnten vereinsame­n, wenn die Ein-Freund-Regel beschlosse­n wird.
FOTO: PLAINPICTU­RE Alleine sitzt ein kleines Mädchen auf dem Spielplatz. Viele Kinder könnten vereinsame­n, wenn die Ein-Freund-Regel beschlosse­n wird.
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany