Wo Völklinger Arbeiter ihr Bierchen tranken
Am 8. November sollte die neue Ausstellung „Mon Trésor – Europas Schatz im Saarland“im Weltkulturerbe Völklinger Hütte beginnen. Wegen Corona ist sie auf unbestimmte Zeit verschoben. In dieser Serie stellen wir vorab ausgewählte Exponate vor. Heute: das
Das Leben schreibt die schönsten Museums-Geschichten. Nicht nur, wenn Hausmeister oder Putzfrauen Fettecken von Joseph Beuys oder vermeintlich verdreckten Badewannen von Martin Kippenberger zu Leibe rücken. Nun gibt es eine neue, saarländische Variante, und die läuft umgekehrt. Sie spielt in der Gebläsehalle des Völklinger Weltkulturerbes und handelt davon, wie ein Wachmann zu einem Ausstellungsstück wird. Wenn, wie gerade jetzt, die Tore fürs Publikum noch geschlossen sind.
Dann nämlich sitzt Gustav (Name von der Red. geändert), wenn er mal ein Päuschen macht, nicht irgendwo in der Gebläsehalle, sondern – im sogenannten Bierdeckelraum. Der steht dort in Originalgröße, etwa vier auf fünf Meter, eine Großinstallation. Und Gustav sitzt dort wie eine der hyperrealistischen Alltags-Helden-Figuren des US-Künstlers Duane Hanson. Der Weltkulturerbe-Mann folgt instinktiv einer Magie, die von Rückzugs-Orten wie diesem ausgehen: Je schlichter, desto unwiderstehlicher. Lebt davon nicht auch das Alm-, Biergartenund Festzelt-Wesen? Nimm lange Holz-Bänke ohne Lehne und ebenso lange schmale Tische – und schon sitzt da jemand. Und dann zwei, und mehr. Der Mensch will zusammenrücken, auch und gerade, wenn die Welt draußen höllisch heiß oder klirrend kalt ist, wenn sie keucht und kreischt und rasselt und die Augen mit beißendem Staub reizt.
So erlebten die meisten Männer in den Röchlingschen Eisen- und Hüttenwerken in Völklingen ihren Berufsalltag, auch noch in den 60er Jahren. Doch es gab eben auch Zufluchts- und Wohlfühl-Ecken wie den Bierdeckelraum. Hat man solche Orte je gesehen? Im Weltkulturerbe bisher noch nicht, dabei verfügt es über dieses triumphale Prunkstück: gebaut in den
60er Jahren als
Haus-im-Haus-Konstruktion, mutmaßlich von den Hütten-Zimmermännern, denn in deren Holzlager, einem Gebäude der Handwerkergasse, wurde die vier auf fünf Meter große „Holzkiste“entdeckt. Sie hatte ein Vorhängeschloss – Zutritt nur für spezielle Arbeiterclub-Mitglieder? Nicht jeder durfte auf dem Völklinger Werksgelände überall hin, die meisten bewegten sich nur in „ihrem“Bereich. Zur Handwerkergasse hatten beispielsweise Schreiner, Elektriker oder Schlosser Zutritt. Ob der Bierdeckelraum all diesen Berufsgruppen offen stand? In den 90er Jahren wurde er entdeckt, von einem Studenten der Saarbrücker Kunsthochschule, die in der Handwerkergasse Ateliers bezogen hatte. Er hieß Frank Krämer und ist heute als Kurator im Weltkulturerbe angestellt – und aktuell zuständig für „Mon Trésor“. „Wir sind damals halt so rumgestreunt, immer im Wettlauf mit den Wachposten“, sagt Krämer. Denn vor 30 Jahren war die Hütte noch kein Touristen-Parcours,
sondern eine nicht erschlossene, „verbotene Stadt der Arbeiter“hinter verriegelten Werkstoren. Krämer wusste: Er hatte einen industriekulturellen Schatz gefunden. Den ließ er nun vom Original-Fundort in die Gebläsehalle translozieren. Krämer erinnert sich an den Moment der Entdeckung: „Es war, als hätte man ein Heiligtum vor Augen.“
Und genau so wird das Groß-Exponat in der Ausstellung auch inszeniert, mit goldenem Licht, als von Innen strahlende Kostbarkeit. Die Wände sind tapeziert mit Hunderten von Bierdeckeln verschiedenster europäischer Marken, offensichtlich über Jahre zusammengetragen: Krefelder Rhenania, Amos aus Metz, Innsbrucker Bürgerbräu, belgisches Van den Heuvel. Außerdem nehmen – wahrlich brave – Pin-Up-Fotos aus Zeitschriften eine Wand ein. Weil alles mit Beize in sattem Braun überstrichen wurde, entsteht der Eindruck einer gemütlichen Höhle.
Es gibt einen Spiegel, vor dem sich die Jungs vor dem Heimweg nochmal übers Haar kämmten, ein verrostetes Schlüsselbrett, Haken für Arbeiterjacken und eine rätselhafte Ablage mit 15 schräg eingelassenen Fächern mit Nummern (851 bis 865) – für dienstliche Post? Oder die Biergläser? Gefunden wurden auch Postkarten. „Viele Grüße aus Ottenhöfen sendet Euch Heinz“. Aus dem „Kurort der natürlichen Höhensonne, Höchenschwand“ruft ein anderer am 8.12.63 eine Anrede zu, die man eher in Soldaten-Kreisen vermuten würde: „Liebe Kameraden!“Man ahnt, wie existenziell verbunden sich diejenigen fühlten, die hier zusammenkamen.
„Wir haben keinen Zeitzeugen gefunden, der diesen Raum kannte oder der erzählen könnte, was hier passiert ist“, sagt Krämer. Weil Lohnzettel der 60er Jahre und eine Tarifvereinbarung von 1957 gefunden wurden, außerdem Jerry-Cotton-Bücher und Comics der „Familie Feuerstein“, einer TV-Serie, die bis 1966 im deutschen Fernsehen lief, geht der Kurator davon aus, dass damals auch die Hochphase der Nutzung lag. Aber wie lange, von wem und wie oft? Laut Krämer fehlt jeder Hinweis, was für die Verborgenheit und Exklusivität des Raumes spricht. Zweifelsohne ist er ein seltenes Erbund Symbolstück einer Berufskultur, in der Alkohol einen festen Platz hatte, als soziale Pflicht. Offiziell gab es Alkohol nur vor den Werkstoren, nach oder schon vor der Schicht. Allein im Bahnhofsviertel existierten bis weit in die 70er Jahre hinein etwa 30 Kneipen. Ertönten die Werkssirenen zu Schichtende, bildeten sich vor allen Gaststätten undurchdringliche Knäuel. Drinnen warteten vorgezapfte Biere, Frikadellen, Fleischsalat-Brötchen und „Krokodile“– mit Käse belegte Kümmelstangen. Auch morgens vor der Schicht um sechs Uhr bestellten sich die meisten ein Pils.
Der Rubenheimer Alltagskultur-Forscher Gunter Altenkirch hat die dunkle Seite dieser Alkohol-Kultur beleuchtet: Sucht, familiäre und finanzielle Probleme. Nicht wenige Ehefrauen lauerten ihren Männern an Tagen auf, an denen es Lohn gab, nahmen ihnen die Lohntüten ab. Clevere Arbeiter griffen deshalb schon vor dem Eintreffen der Frauen in die Lohntüte und legten Geld fürs Bierchen zur Seite. Mitte der 60er Jahre wurde auf die bargeldlose Lohnauszahlung umgestellt. Da flog der Schwindel auf, weil die Frauen merkten, dass mehr aufs Konto überwiesen wurde, als zuvor in den Lohntüten gewesen war. Es gab Stunk.
Umso wichtiger die kleinen Fluchten in die alkoholselige Männer-Welt des Bierdeckelraumes? Denn bereits Anfang der 70er Jahre kündigte sich mit der ersten Stahlkrise das Sterben der Arbeiter-Kneipen an. Heute ist dieses frühere Herz Völklingens, das im Schichten-Takt schlug und von Gemeinschaft kündete, weggeätzt.
„Es war, als hätte man ein Heiligtum vor Augen.“
Frank Krämer
„Mon trésor“-Kurator