Saarbruecker Zeitung

Wo Völklinger Arbeiter ihr Bierchen tranken

Am 8. November sollte die neue Ausstellun­g „Mon Trésor – Europas Schatz im Saarland“im Weltkultur­erbe Völklinger Hütte beginnen. Wegen Corona ist sie auf unbestimmt­e Zeit verschoben. In dieser Serie stellen wir vorab ausgewählt­e Exponate vor. Heute: das

- VON CATHRIN ELSS-SERINGHAUS

Das Leben schreibt die schönsten Museums-Geschichte­n. Nicht nur, wenn Hausmeiste­r oder Putzfrauen Fettecken von Joseph Beuys oder vermeintli­ch verdreckte­n Badewannen von Martin Kippenberg­er zu Leibe rücken. Nun gibt es eine neue, saarländis­che Variante, und die läuft umgekehrt. Sie spielt in der Gebläsehal­le des Völklinger Weltkultur­erbes und handelt davon, wie ein Wachmann zu einem Ausstellun­gsstück wird. Wenn, wie gerade jetzt, die Tore fürs Publikum noch geschlosse­n sind.

Dann nämlich sitzt Gustav (Name von der Red. geändert), wenn er mal ein Päuschen macht, nicht irgendwo in der Gebläsehal­le, sondern – im sogenannte­n Bierdeckel­raum. Der steht dort in Originalgr­öße, etwa vier auf fünf Meter, eine Großinstal­lation. Und Gustav sitzt dort wie eine der hyperreali­stischen Alltags-Helden-Figuren des US-Künstlers Duane Hanson. Der Weltkultur­erbe-Mann folgt instinktiv einer Magie, die von Rückzugs-Orten wie diesem ausgehen: Je schlichter, desto unwiderste­hlicher. Lebt davon nicht auch das Alm-, Biergarten­und Festzelt-Wesen? Nimm lange Holz-Bänke ohne Lehne und ebenso lange schmale Tische – und schon sitzt da jemand. Und dann zwei, und mehr. Der Mensch will zusammenrü­cken, auch und gerade, wenn die Welt draußen höllisch heiß oder klirrend kalt ist, wenn sie keucht und kreischt und rasselt und die Augen mit beißendem Staub reizt.

So erlebten die meisten Männer in den Röchlingsc­hen Eisen- und Hüttenwerk­en in Völklingen ihren Berufsallt­ag, auch noch in den 60er Jahren. Doch es gab eben auch Zufluchts- und Wohlfühl-Ecken wie den Bierdeckel­raum. Hat man solche Orte je gesehen? Im Weltkultur­erbe bisher noch nicht, dabei verfügt es über dieses triumphale Prunkstück: gebaut in den

60er Jahren als

Haus-im-Haus-Konstrukti­on, mutmaßlich von den Hütten-Zimmermänn­ern, denn in deren Holzlager, einem Gebäude der Handwerker­gasse, wurde die vier auf fünf Meter große „Holzkiste“entdeckt. Sie hatte ein Vorhängesc­hloss – Zutritt nur für spezielle Arbeitercl­ub-Mitglieder? Nicht jeder durfte auf dem Völklinger Werksgelän­de überall hin, die meisten bewegten sich nur in „ihrem“Bereich. Zur Handwerker­gasse hatten beispielsw­eise Schreiner, Elektriker oder Schlosser Zutritt. Ob der Bierdeckel­raum all diesen Berufsgrup­pen offen stand? In den 90er Jahren wurde er entdeckt, von einem Studenten der Saarbrücke­r Kunsthochs­chule, die in der Handwerker­gasse Ateliers bezogen hatte. Er hieß Frank Krämer und ist heute als Kurator im Weltkultur­erbe angestellt – und aktuell zuständig für „Mon Trésor“. „Wir sind damals halt so rumgestreu­nt, immer im Wettlauf mit den Wachposten“, sagt Krämer. Denn vor 30 Jahren war die Hütte noch kein Touristen-Parcours,

sondern eine nicht erschlosse­ne, „verbotene Stadt der Arbeiter“hinter verriegelt­en Werkstoren. Krämer wusste: Er hatte einen industriek­ulturellen Schatz gefunden. Den ließ er nun vom Original-Fundort in die Gebläsehal­le translozie­ren. Krämer erinnert sich an den Moment der Entdeckung: „Es war, als hätte man ein Heiligtum vor Augen.“

Und genau so wird das Groß-Exponat in der Ausstellun­g auch inszeniert, mit goldenem Licht, als von Innen strahlende Kostbarkei­t. Die Wände sind tapeziert mit Hunderten von Bierdeckel­n verschiede­nster europäisch­er Marken, offensicht­lich über Jahre zusammenge­tragen: Krefelder Rhenania, Amos aus Metz, Innsbrucke­r Bürgerbräu, belgisches Van den Heuvel. Außerdem nehmen – wahrlich brave – Pin-Up-Fotos aus Zeitschrif­ten eine Wand ein. Weil alles mit Beize in sattem Braun überstrich­en wurde, entsteht der Eindruck einer gemütliche­n Höhle.

Es gibt einen Spiegel, vor dem sich die Jungs vor dem Heimweg nochmal übers Haar kämmten, ein verrostete­s Schlüsselb­rett, Haken für Arbeiterja­cken und eine rätselhaft­e Ablage mit 15 schräg eingelasse­nen Fächern mit Nummern (851 bis 865) – für dienstlich­e Post? Oder die Biergläser? Gefunden wurden auch Postkarten. „Viele Grüße aus Ottenhöfen sendet Euch Heinz“. Aus dem „Kurort der natürliche­n Höhensonne, Höchenschw­and“ruft ein anderer am 8.12.63 eine Anrede zu, die man eher in Soldaten-Kreisen vermuten würde: „Liebe Kameraden!“Man ahnt, wie existenzie­ll verbunden sich diejenigen fühlten, die hier zusammenka­men.

„Wir haben keinen Zeitzeugen gefunden, der diesen Raum kannte oder der erzählen könnte, was hier passiert ist“, sagt Krämer. Weil Lohnzettel der 60er Jahre und eine Tarifverei­nbarung von 1957 gefunden wurden, außerdem Jerry-Cotton-Bücher und Comics der „Familie Feuerstein“, einer TV-Serie, die bis 1966 im deutschen Fernsehen lief, geht der Kurator davon aus, dass damals auch die Hochphase der Nutzung lag. Aber wie lange, von wem und wie oft? Laut Krämer fehlt jeder Hinweis, was für die Verborgenh­eit und Exklusivit­ät des Raumes spricht. Zweifelsoh­ne ist er ein seltenes Erbund Symbolstüc­k einer Berufskult­ur, in der Alkohol einen festen Platz hatte, als soziale Pflicht. Offiziell gab es Alkohol nur vor den Werkstoren, nach oder schon vor der Schicht. Allein im Bahnhofsvi­ertel existierte­n bis weit in die 70er Jahre hinein etwa 30 Kneipen. Ertönten die Werkssiren­en zu Schichtend­e, bildeten sich vor allen Gaststätte­n undurchdri­ngliche Knäuel. Drinnen warteten vorgezapft­e Biere, Frikadelle­n, Fleischsal­at-Brötchen und „Krokodile“– mit Käse belegte Kümmelstan­gen. Auch morgens vor der Schicht um sechs Uhr bestellten sich die meisten ein Pils.

Der Rubenheime­r Alltagskul­tur-Forscher Gunter Altenkirch hat die dunkle Seite dieser Alkohol-Kultur beleuchtet: Sucht, familiäre und finanziell­e Probleme. Nicht wenige Ehefrauen lauerten ihren Männern an Tagen auf, an denen es Lohn gab, nahmen ihnen die Lohntüten ab. Clevere Arbeiter griffen deshalb schon vor dem Eintreffen der Frauen in die Lohntüte und legten Geld fürs Bierchen zur Seite. Mitte der 60er Jahre wurde auf die bargeldlos­e Lohnauszah­lung umgestellt. Da flog der Schwindel auf, weil die Frauen merkten, dass mehr aufs Konto überwiesen wurde, als zuvor in den Lohntüten gewesen war. Es gab Stunk.

Umso wichtiger die kleinen Fluchten in die alkoholsel­ige Männer-Welt des Bierdeckel­raumes? Denn bereits Anfang der 70er Jahre kündigte sich mit der ersten Stahlkrise das Sterben der Arbeiter-Kneipen an. Heute ist dieses frühere Herz Völklingen­s, das im Schichten-Takt schlug und von Gemeinscha­ft kündete, weggeätzt.

„Es war, als hätte man ein Heiligtum vor Augen.“

Frank Krämer

„Mon trésor“-Kurator

 ?? FOTO: OLIVER DIETZE ?? Ein Wachmann sitzt in dem „Bierdeckel­raum“, der als Exponat in der Ausstellun­g „Mon Trésor“im Weltkultur­erbe Völklinger Hütte aufgebaut wurde.
FOTO: OLIVER DIETZE Ein Wachmann sitzt in dem „Bierdeckel­raum“, der als Exponat in der Ausstellun­g „Mon Trésor“im Weltkultur­erbe Völklinger Hütte aufgebaut wurde.

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