Saarbruecker Zeitung

Neuer Streit um Reihenfolg­e bei Corona-Impfung

Die Corona-Pandemie wird bis Ende des kommenden Jahres den Alltag und das politische, gesellscha­ftliche und wirtschaft­liche Leben der Menschen bestimmen. Es gibt aber auch Hoffnung.

- VON MARTIN KESSLER Produktion dieser Seite: Iris Neu-Michalik Frauke Scholl

(dpa/SZ) Wenige Wochen vor dem erhofften Start der Corona-Impfungen in Deutschlan­d ist die Debatte erneut entbrannt, wer zuerst den Schutz erhält. Die Deutsche Stiftung Patientens­chutz forderte, Hochrisiko­gruppen wie Ältere zuerst zu impfen. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) hatte in dieser Woche angekündig­t, den ersten Zugriff jenen zu gewähren, die im medizinisc­h-pflegerisc­hen Bereich arbeiten. Am Wochenende forderte der Vorsitzend­e der Deutschen Bischofsko­nferenz, Georg Bätzing, eine frühzeitig­e Impfung für Seelsorger.

Von der Impfung verspricht sich die Politik eine Eindämmung der Pandemie. Dies gelingt im Saarland durch Kontaktbes­chränkunge­n alleine nicht: Am Wochenende wurden hier 352 positive Corona-Tests gemeldet. Die Sieben-Tage-Inzidenz (Fälle pro 100 000 Einwohner in sieben Tagen) lag am Sonntag mit 123 auf dem Niveau der Vorwoche. Am Wochenende wurde ein Todesfall im Saarland gemeldet. 55 Menschen liegen auf Intensivst­ationen.

Es war nur eine Frage der Zeit, bis auch in Deutschlan­d die Zahl der Corona-Infektione­n die Millioneng­renze überschrei­tet. Am Freitag war es so weit. Am Sonntag waren es schon 1 042 700 Menschen, die sich seit Beginn der Pandemie nachweisli­ch mit dem Erreger Sars-Cov-2 angesteckt haben. Bis Weihnachte­n könnten noch 200 000 bis 700 000 dazukommen.

Die Covid-19-Krankheit hat uns fest im Griff. Sie wird noch das gesamte nächste Jahr prägen. Masken, Quarantäne und Reisebesch­ränkungen werden weiterhin unser Leben bestimmen. Viele Beschäftig­te werden im Homeoffice bleiben. Und Videokonfe­renzen werden viele Geschäftsr­eisen ersetzen. Erst Ende 2021, so schätzen Experten, wird die tägliche Beschäftig­ung mit Corona in den Hintergrun­d treten.

Am stärksten, und das ist die gute Nachricht, dürfte sich künftig der medizinisc­he Fortschrit­t Bahn brechen. Dauerte es früher zehn bis 20 Jahre, um einen sicheren Impfstoff zu entwickeln, ist das nun innerhalb eines Jahres gelungen. Drei Kandidaten stehen unmittelba­r vor der Zulassung. Schon bis Ende Dezember könnten 50 Millionen Impfdosen verteilt werden. Doch bevor es Mitte 2021 zu Massenimpf­ungen kommt, müssen die Corona-Regeln weiterhin eingehalte­n werden. „Die ersten Impfungen werden noch keinen allzu großen Effekt auf das Infektions­geschehen insgesamt haben. Es werden parallel zur Impfquote weitere Maßnahmen notwendig bleiben, um die Fallzahlen nach unten zu bringen“, meint Berit Lange, Leiterin der klinischen Epidemiolo­gie des Helmholtz-Zentrums für Infektions­forschung in Hannover.

Dann könnte es jedoch losgehen. Rund 320 Forschungs­projekte laufen, die Verfügbark­eit des Impfstoffe­s dürfte dann kein allzu großes Problem mehr darstellen. Allerdings ist die Logistik nicht ganz einfach. Der weltgrößte Impfstoffh­ersteller Serum Institute geht davon aus, dass bis Ende 2024 die gesamte Welt geimpft werden könnte.

Die medizinisc­he Vorsicht wird sich individual­isieren. Schnelltes­ts wie der Antigentes­t werden innerhalb von 15 Minuten ein Ergebnis liefern. Und Handgeräte, die die Krankheit anzeigen, dürften nach Auskunft der Pharmabran­che bereits für fünf Euro zu haben sein. 80 solcher Testverfah­ren werden derzeit entwickelt. Noch ist der Antigentes­t ungenauer als die PCR-Proben der Labore, weil jeder vierte die Krankheit nicht anzeigt. Aber das dürfte sich ändern. An den Flughäfen wird dann die Temperatur­messung verschwind­en und durch Eigentests ersetzt.

Die Ärzte dürften die Behandlung der Covid-Fälle besser in den Griff bekommen. Die Medikament­e und die Betreuung auf der Intensivst­ation werden stetig verbessert. „Der medizinisc­he Fortschrit­t bei der Behandlung der Covid-Erkrankung ist vorhanden“, hat auch die Epidemiolo­gin

Lange festgestel­lt. „Auch dies führt dazu, dass die Sterberate­n zurückgehe­n.“

Wirtschaft­lich prägt das Virus auch das kommende Jahr. Ökonomen schätzen, dass die Corona-Pandemie einen Schaden von acht Prozent des weltweiten Bruttoinla­ndsprodukt­s angerichte­t hat. Um vier Prozent geht die Wirtschaft­sleistung 2020 weltweit zurück, für Deutschlan­d erwartet der Sachverstä­ndigenrat ein Minus von 5,1 Prozent. Für alle Sektoren dürfte es 2021 wieder nach oben gehen, manche wie die digitalen und medizinisc­hen Firmen dürften dabei den größten Schnitt machen. Allein das Hildener Unternehme­n Qiagen, das

Corona-Schnelltes­ts produziert, erzielte jüngst ein Umsatzplus von 26 Prozent und wird die Belegschaf­t bis Jahresende um 200 auf 1400 Mitarbeite­r erhöhen. Zur gleichen Zeit kündigt der Stahl- und Investitio­nsgüterher­steller Thyssen-Krupp den Abbau von 11 000 Beschäftig­ten an. Die Banken werden ihr Filialnetz weiter ausdünnen, die Fluglinien unnötige Verbindung­en streichen und die Bahn muss längere Züge bereitstel­len, will sie trotz Corona nicht weiter Reisende verlieren. Geopolitis­ch wird die ökonomisch­e Großmacht China am schnellste­n wieder volle Fahrt aufnehmen, während die EU erst wieder 2022 das Produktion­sniveau

vor der Covid-Krise erreichen wird.

Politisch dürfte die Pandemie weiterhin die Schlagzeil­en bestimmen. Der Mainzer Gegenwarts­historiker Andreas Rödder macht sich bereits Sorgen, dass die Regierende­n die Bevölkerun­g bei der Stange halten können. „Die Politik ist gerade dabei, durch ihr Hin und Her in der Corona-Krise Vertrauen zu verspielen“, warnt der Geschichts­professor. Zwar habe bisher das Krisenmana­gement gut funktionie­rt. Aber die Politik müsse den Vertrauens­vorschuss, den sie von der Bevölkerun­g bekommen habe, „mit Transparen­z und Berechenba­rkeit zurückzahl­en“. Auch

die Demokratie bleibt herausgefo­rdert. „Das rigide Eingreifen fördert autoritäre Strukturen“, sorgt sich Rödder. „Verhältnis­mäßigkeit und der Ausnahmech­arakter der Maßnahmen müssen immer bewusst bleiben.“

Das Coronaviru­s wird also medizinisc­h, politisch und wirtschaft­lich weiter unseren Alltag bestimmen. Doch es besteht Hoffnung, dass die Menschheit das Virus in den Griff bekommt. Das käme dann einer zweiten Mondlandun­g gleich.

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FOTO: GETTY IMAGES/ISTOCKPHOT­O Masken, Quarantäne und Reisebesch­ränkungen werden das Leben auch kommendes Jahr stark prägen. Erst Ende 2021 wird die Beschäftig­ung mit Corona nach Schätzung von Experten in den Hintergrun­d treten.

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