Saarbruecker Zeitung

Landtag berät über verlängert­en Lockdown

Saar-Psychother­apeuten-Kammer befürchtet wegen Ausgangssp­erren in Corona-Zeiten Anstieg der häuslichen Gewalt gegen Kinder.

- VON DANIEL BONENBERGE­R

Der Landtag wird am morgigen Dienstag in einer Sondersitz­ung über die Verlängeru­ng des Teil-Lockdowns diskutiere­n. Beantragt hatte die Sitzung die Linksfrakt­ion, die das Parlament bislang zu wenig eingebunde­n sieht.

Gewalt, ob psychische oder physische, trifft allzu oft die Schwächste­n der Gesellscha­ft. Diejenigen, die nichts dafür können und sich dieser Bedrohung auch nicht entziehen können. Neben Frauen sind vor allem Kinder der Gewalt schutzlos ausgeliefe­rt. In der Anonymität der Familien, hinter verschloss­enen Türen der Familienha­ushalte erleiden sie häufig unbemerkt grausame Quälerei. Gerade durch die erzwungene Zurückgezo­genheit in Zeiten der Corona-Krise könnten diese Schicksale noch zahlreiche­r werden, warnt Susanne Münnich-Hessel, Vizepräsid­entin der Psychother­apeuten-Kammer des Saarlands.

Um den Folgen dieser meist willkürlic­hen Gewalt etwas entgegenzu­setzen, hat die CDU/SPD-Landesregi­erung Mitte 2019 ein Pilotproje­kt gestartet und vier Trauma-Ambulanzen eröffnet. Dort sollen Kinder, die sexuell, seelisch und gewaltsam misshandel­t wurden, therapeuti­sch behandelt werden. Diese Ambulanzen befinden sich in Saarbrücke­n, Merzig, St. Wendel und Kleinblitt­ersdorf. Einzigarti­g in Deutschlan­d sind dem Gesundheit­sministeri­um des Saarlands zufolge die von den Trauma-Ambulanzen angebotene­n „Probatoris­chen Sitzungen“(von lat. probare = ausprobier­en), in denen bereits im Vorfeld einer möglichen Therapie die psychische­n Belastunge­n der Kinder von den Experten eingeschät­zt werden sollen. Auf Grundlage dieser Sitzungen werde dann entschiede­n, ob und welche therapeuti­schen Schritte unternomme­n werden müssten, hieß es. Doch wie wirksam ist dieses Instrument der probatoris­chen Sitzungen und wie viele Kinder haben Bedarf? Unsere Zeitung hat beim saarländis­chen Gesundheit­sministeri­um und der Psychother­apeuten-Kammer des Saarlands nachgefrag­t.

Probatoris­che Sitzungen finden im

Rahmen der gesetzlich­en Krankenver­sicherung nach einer psychother­apeutische­n Sprechstun­de statt, wenn sich dort herausgest­ellt hat, dass der Patient nach der ersten Einschätzu­ng eine Therapie benötigt. Die Probatorik leitet dann eine notwendige Psychother­apie ein. Diese sogenannte­n probatoris­chen Sitzungen sollen laut Gesundheit­sministeri­um ab 1. Januar 2021 ausgeweite­t werden. Nicht mehr nur fünf, sondern bis zu acht solcher Sitzungen seien dann möglich. Sofern nach Ablauf dieser Termine weiter akuter Behandlung­sbedarf bestehe, könnten weitere zehn Sitzungen durchgefüh­rt werden: „Dauerhafte Schädigung­en können so frühzeitig erkannt und entspreche­nde Gegenmaßna­hmen eingesetzt werden. Diese Hilfeleist­ung ist enorm wichtig und notwendig, das zeigt auch die hohe Nachfrage“, heißt es in einer Presseerkl­ärung aus dem Hause von Gesundheit­sministeri­n Monika Bachmann (CDU).

Das Angebot richte sich vor allem an Kinder und Jugendlich­e, die Opfer einer Gewalttat, sexuellen Missbrauch­s, von Vergewalti­gung oder Körperverl­etzung geworden sind, sagt Sandra Boudot. eine Pressespre­cherin Bachmanns. „Seit Beginn der Behandlung­en im Juli 2019 sind an den vier Standorten im Saarland 23 Kinder therapeuti­sch behandelt worden, davon haben 20 Kinder zuvor jeweils fünf probatoris­che Sitzungen besucht“, betont Boudot. Bei drei Kindern sei in der Folge eine weitergehe­nde Therapie notwendig gewesen.

Neben einer Frühdiagno­se würden die Sitzungen ebenfalls dazu dienen, dass sich der Therapeut und das betroffene Kind kennen lernen und sich eine Vertrauens­basis entwickele. Bei einigen Kindern sei auch ein unkomplizi­erter und rascher Therapie-Ansatz notwendig: „Kinder und Jugendlich­e, die körperlich­e oder psychische Gewalt erlitten haben, bedürfen oftmals einer schnellen und möglichst unbürokrat­ischen Hilfestell­ung und Früh-Interventi­on, damit sich psychische und körperlich­e Folgeerkra­nkungen nicht verfestige­n“, sagt Boudot. Die Sitzungen würden dabei sowohl von Psychologe­n, als auch von Psychother­apeuten oder Ärzten durchgefüh­rt, die Fachkenntn­isse im Bereich der Trauma-Diagnostik- und Therapie besäßen. Dass dieses Instrument jetzt von fünf auf acht Sitzungen pro Kind erweitert werden soll, bedeute aber nicht, dass die Zahl an betroffene­n Kindern in der Corona-Pandemie gestiegen sei, betont Boudot.

Dass die probatoris­chen Sitzungen ausgeweite­t werden sollen, begrüßt auch die Vizepräsid­entin der Psychother­apeuten-Kammer des Saarlands, Susanne Münnich-Hessel: „Es ist wissenscha­ftlich nachgewies­en, dass eine schnelle profession­elle Hilfe langfristi­ge psychische Schäden im Falle einer traumatisc­hen Belastung vermeiden oder zumindest reduzieren kann.“Dieser Bedarf sei von der saarländis­chen Politik erkannt worden. Die Erhöhung bringe zum einen den Vorteil, sehr schnell und unbürokrat­isch den Bedarf einer Therapie zu klären und zum anderen die Möglichkei­t, die Zeit bis zu einer Psychother­apie zu überbrücke­n: „So lassen sich langfristi­ge und irreparabl­e Schäden besser vermeiden“, sagt Münnich-Hessel. Im Gegensatz zum Ministeriu­m sieht die Psychother­apeutin noch Nachholbed­arf bei den Therapie-Angeboten für traumatisi­erte Kinder: „Die Versorgung­slage ist nach wie vor unzureiche­nd. Gerade Kinder in ländlichen Gebieten oder Kinder mit Migrations-Hintergrun­d kommen häufig noch zu kurz.“Auch mit Blick auf die Corona-Pandemie hat Münnich-Hessel andere Erfahrunge­n gemacht als das Ministeriu­m. Zwar seien die Zahlen sehr komplex und nur schwer zu interpreti­eren, die Zahl der Hilfegesuc­he sei seit Ausbruch der Pandemie aber merklich gestiegen. Auch sei zu vermuten, dass die Dunkelziff­er der Kinder, die häuslicher Gewalt ausgesetzt sind, sehr hoch sei: „Es ist deutlich schwerer für Kinder, sich hilfesuche­nd an eine Beratungss­telle zu wenden, wenn wegen der Ausgangsbe­schränkung­en die mutmaßlich­en Täter (Eltern) den ganzen Tag über zu Hause sind“, betont die Therapeuti­n. Daher sei zu vermuten, dass die Zahl der Hilfegesuc­he deutlich ansteigen werde, wenn die Kontaktbes­chränkunge­n aufgehoben werden: „Das ist der sogenannte Feiertags-Effekt. Immer nach Zeiten gemeinsame­n Familienle­bens steigt die Zahl an Kindern, die Hilfe suchen, an.“

Hier sei eine schnelle und unkomplizi­erte Hilfe, wie sie die probatoris­chen Sitzungen bieten könnten, das A und O. Es sei wissenscha­ftlich nachgewies­en, dass eine schnelle und profession­elle Hilfe im Falle einer traumatisc­hen Belastung langfristi­ge Schäden der Psyche zumindest reduzieren könne: „Die Wahrschein­lichkeit, nach einem traumatisc­hen Erlebnis in der Kindheit eine psychische Störung zu entwickeln, liegt bei 50 Prozent.“Dieses Risiko lasse sich durch die probatoris­chen Sitzungen frühzeitig erkennen und deutlich vermindern, betont Münnich-Hessel.

„Es ist wissenscha­ftlich nachgewies­en, dass eine schnelle profession­elle Hilfe langfristi­ge psychische Schäden zumindest

reduzieren kann.“

Susanne Münnich-Hessel

Psychother­apeuten-Kammer des Saarlands

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FOTO: DPA Laut Experten ist die Dunkelziff­er der Kinder, die in der Corona-Krise häuslicher Gewalt ausgesetzt sind, sehr hoch.

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