Landtag berät über verlängerten Lockdown
Saar-Psychotherapeuten-Kammer befürchtet wegen Ausgangssperren in Corona-Zeiten Anstieg der häuslichen Gewalt gegen Kinder.
Der Landtag wird am morgigen Dienstag in einer Sondersitzung über die Verlängerung des Teil-Lockdowns diskutieren. Beantragt hatte die Sitzung die Linksfraktion, die das Parlament bislang zu wenig eingebunden sieht.
Gewalt, ob psychische oder physische, trifft allzu oft die Schwächsten der Gesellschaft. Diejenigen, die nichts dafür können und sich dieser Bedrohung auch nicht entziehen können. Neben Frauen sind vor allem Kinder der Gewalt schutzlos ausgeliefert. In der Anonymität der Familien, hinter verschlossenen Türen der Familienhaushalte erleiden sie häufig unbemerkt grausame Quälerei. Gerade durch die erzwungene Zurückgezogenheit in Zeiten der Corona-Krise könnten diese Schicksale noch zahlreicher werden, warnt Susanne Münnich-Hessel, Vizepräsidentin der Psychotherapeuten-Kammer des Saarlands.
Um den Folgen dieser meist willkürlichen Gewalt etwas entgegenzusetzen, hat die CDU/SPD-Landesregierung Mitte 2019 ein Pilotprojekt gestartet und vier Trauma-Ambulanzen eröffnet. Dort sollen Kinder, die sexuell, seelisch und gewaltsam misshandelt wurden, therapeutisch behandelt werden. Diese Ambulanzen befinden sich in Saarbrücken, Merzig, St. Wendel und Kleinblittersdorf. Einzigartig in Deutschland sind dem Gesundheitsministerium des Saarlands zufolge die von den Trauma-Ambulanzen angebotenen „Probatorischen Sitzungen“(von lat. probare = ausprobieren), in denen bereits im Vorfeld einer möglichen Therapie die psychischen Belastungen der Kinder von den Experten eingeschätzt werden sollen. Auf Grundlage dieser Sitzungen werde dann entschieden, ob und welche therapeutischen Schritte unternommen werden müssten, hieß es. Doch wie wirksam ist dieses Instrument der probatorischen Sitzungen und wie viele Kinder haben Bedarf? Unsere Zeitung hat beim saarländischen Gesundheitsministerium und der Psychotherapeuten-Kammer des Saarlands nachgefragt.
Probatorische Sitzungen finden im
Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung nach einer psychotherapeutischen Sprechstunde statt, wenn sich dort herausgestellt hat, dass der Patient nach der ersten Einschätzung eine Therapie benötigt. Die Probatorik leitet dann eine notwendige Psychotherapie ein. Diese sogenannten probatorischen Sitzungen sollen laut Gesundheitsministerium ab 1. Januar 2021 ausgeweitet werden. Nicht mehr nur fünf, sondern bis zu acht solcher Sitzungen seien dann möglich. Sofern nach Ablauf dieser Termine weiter akuter Behandlungsbedarf bestehe, könnten weitere zehn Sitzungen durchgeführt werden: „Dauerhafte Schädigungen können so frühzeitig erkannt und entsprechende Gegenmaßnahmen eingesetzt werden. Diese Hilfeleistung ist enorm wichtig und notwendig, das zeigt auch die hohe Nachfrage“, heißt es in einer Presseerklärung aus dem Hause von Gesundheitsministerin Monika Bachmann (CDU).
Das Angebot richte sich vor allem an Kinder und Jugendliche, die Opfer einer Gewalttat, sexuellen Missbrauchs, von Vergewaltigung oder Körperverletzung geworden sind, sagt Sandra Boudot. eine Pressesprecherin Bachmanns. „Seit Beginn der Behandlungen im Juli 2019 sind an den vier Standorten im Saarland 23 Kinder therapeutisch behandelt worden, davon haben 20 Kinder zuvor jeweils fünf probatorische Sitzungen besucht“, betont Boudot. Bei drei Kindern sei in der Folge eine weitergehende Therapie notwendig gewesen.
Neben einer Frühdiagnose würden die Sitzungen ebenfalls dazu dienen, dass sich der Therapeut und das betroffene Kind kennen lernen und sich eine Vertrauensbasis entwickele. Bei einigen Kindern sei auch ein unkomplizierter und rascher Therapie-Ansatz notwendig: „Kinder und Jugendliche, die körperliche oder psychische Gewalt erlitten haben, bedürfen oftmals einer schnellen und möglichst unbürokratischen Hilfestellung und Früh-Intervention, damit sich psychische und körperliche Folgeerkrankungen nicht verfestigen“, sagt Boudot. Die Sitzungen würden dabei sowohl von Psychologen, als auch von Psychotherapeuten oder Ärzten durchgeführt, die Fachkenntnisse im Bereich der Trauma-Diagnostik- und Therapie besäßen. Dass dieses Instrument jetzt von fünf auf acht Sitzungen pro Kind erweitert werden soll, bedeute aber nicht, dass die Zahl an betroffenen Kindern in der Corona-Pandemie gestiegen sei, betont Boudot.
Dass die probatorischen Sitzungen ausgeweitet werden sollen, begrüßt auch die Vizepräsidentin der Psychotherapeuten-Kammer des Saarlands, Susanne Münnich-Hessel: „Es ist wissenschaftlich nachgewiesen, dass eine schnelle professionelle Hilfe langfristige psychische Schäden im Falle einer traumatischen Belastung vermeiden oder zumindest reduzieren kann.“Dieser Bedarf sei von der saarländischen Politik erkannt worden. Die Erhöhung bringe zum einen den Vorteil, sehr schnell und unbürokratisch den Bedarf einer Therapie zu klären und zum anderen die Möglichkeit, die Zeit bis zu einer Psychotherapie zu überbrücken: „So lassen sich langfristige und irreparable Schäden besser vermeiden“, sagt Münnich-Hessel. Im Gegensatz zum Ministerium sieht die Psychotherapeutin noch Nachholbedarf bei den Therapie-Angeboten für traumatisierte Kinder: „Die Versorgungslage ist nach wie vor unzureichend. Gerade Kinder in ländlichen Gebieten oder Kinder mit Migrations-Hintergrund kommen häufig noch zu kurz.“Auch mit Blick auf die Corona-Pandemie hat Münnich-Hessel andere Erfahrungen gemacht als das Ministerium. Zwar seien die Zahlen sehr komplex und nur schwer zu interpretieren, die Zahl der Hilfegesuche sei seit Ausbruch der Pandemie aber merklich gestiegen. Auch sei zu vermuten, dass die Dunkelziffer der Kinder, die häuslicher Gewalt ausgesetzt sind, sehr hoch sei: „Es ist deutlich schwerer für Kinder, sich hilfesuchend an eine Beratungsstelle zu wenden, wenn wegen der Ausgangsbeschränkungen die mutmaßlichen Täter (Eltern) den ganzen Tag über zu Hause sind“, betont die Therapeutin. Daher sei zu vermuten, dass die Zahl der Hilfegesuche deutlich ansteigen werde, wenn die Kontaktbeschränkungen aufgehoben werden: „Das ist der sogenannte Feiertags-Effekt. Immer nach Zeiten gemeinsamen Familienlebens steigt die Zahl an Kindern, die Hilfe suchen, an.“
Hier sei eine schnelle und unkomplizierte Hilfe, wie sie die probatorischen Sitzungen bieten könnten, das A und O. Es sei wissenschaftlich nachgewiesen, dass eine schnelle und professionelle Hilfe im Falle einer traumatischen Belastung langfristige Schäden der Psyche zumindest reduzieren könne: „Die Wahrscheinlichkeit, nach einem traumatischen Erlebnis in der Kindheit eine psychische Störung zu entwickeln, liegt bei 50 Prozent.“Dieses Risiko lasse sich durch die probatorischen Sitzungen frühzeitig erkennen und deutlich vermindern, betont Münnich-Hessel.
„Es ist wissenschaftlich nachgewiesen, dass eine schnelle professionelle Hilfe langfristige psychische Schäden zumindest
reduzieren kann.“
Susanne Münnich-Hessel
Psychotherapeuten-Kammer des Saarlands