Saarbruecker Zeitung

Ursula von der Leyen seit einem Jahr EU-Chefin

Seit einem Jahr sind die EU-Kommission­spräsident­in und ihr Team im Amt. Ein Jahr, das von „beispiello­sen Problemen“geprägt war.

- VON DETLEF DREWES Produktion dieser Seite: Martin Wittenmeie­r Vincent Bauer

Seit einem Jahr leitet Ursula von der Leyen die EU-Kommission. Der Brexit und die Corona-Krise haben der ersten Frau an der Spitze Europas den Start in Brüssel nicht einfach gemacht.

Es ist wieder eine dieser bunten Broschüren mit hübschen Grafiken und interessan­ten Schaubilde­rn. Auf 32 Seiten werden darin die Verdienste der Europäisch­en Kommission ausgebreit­et. Seit gestern liegt das Heft bei den Dienststel­len der Europäisch­en Kommission aus. Schließlic­h sind Präsidenti­n Ursula von der Leyen und ihr Team am heutigen Dienstag ein Jahr im Amt. Die Marketing-Experten der EU-Behörde haben wieder einmal ganze Arbeit geleistet: Die Chefin wird bei einer virtuellen Konferenz gezeigt, von den Mitglieder­n ihrer Mannschaft

„Sie hat sich ganz gut

geschlagen.“

Ska Keller

Grünen-Fraktionsc­hefin im EU-Parlament

fehlen Fotos. Eine One-Woman-Show. Das ist von der Leyens Stärke und zugleich ihr größtes Problem.

Schon die ersten Tage ihrer Amtszeit begannen mit großen Worten. Der Green Deal, also der Umbau von Wirtschaft und Gesellscha­ft auf eine klimaneutr­ale Zukunft hin, verglich von der Leyen bei der Präsentati­on mit der „Mondlandun­g“. „Pathetisch­e Überschrif­ten, aber wenig Substanz“analysiert­en viele Europa-Abgeordnet­e immer häufiger. Ob Industrie-Strategie oder Digitalisi­erung – die Präsidenti­n blieb bei ihrer Linie, Vorhaben erst vollmundig anzukündig­en und die Details auf später zu verschiebe­n.

Als vor wenigen Wochen dann zu einem dieser Projekte die Details zuerst durchsicke­rten, war die Harmonie dahin. Es ging um die künftigen Grenzwerte für Pkw sowie die für Ende nächsten Jahres geplante Euro-7-Abgasnorm. Das Papier enthielt so viel technische­n Unsinn, dass es den Kritikern leicht fiel, es in der Luft zu zerreißen. In dem Denkstück

war beispielsw­eise der Grenzwert für Stickoxid so niedrig veranschla­gt worden, dass die bei den Messgeräte­n übliche Ungenauigk­eit höher war. Als von der Leyen sich der christdemo­kratischen Fraktion stellte, hagelte es Kritik. Der Vorfall ist typisch – nicht, weil ein Entwurf aus irgendeine­r Generaldir­ektion an die Medien „durchgesto­chen“worden war. Dafür kann niemand die Präsidenti­n zur Verantwort­ung ziehen.

„Viel schlimmer war, dass sie keine Strategie und keinen Plan hatte“, erzählte ein Abgeordnet­er hinterher. „Sie weiß, wie man etwas verkauft, ohne zu wissen, was sie verkaufen soll“, sagen Kritiker, die von einem offenen Machtkampf in der Kommission sprechen, weil die Präsidenti­n und ihre Stellvertr­eter nicht selten gegeneinan­der arbeiten.

In der Coronaviru­s-Krise lief von der Leyen zunächst den Mitgliedss­taaten

hinterher. Selbst Amtsvorgän­ger Jean-Claude Juncker bilanziert­e vor wenigen Tagen mitleidig: „Man kann niemandem erklären, dass Europa grenzenlos ist und wenn etwas passiert, werden die Grenzen wieder hochgezoge­n.“Von der Leyen machte erst wieder Boden gut, als ihre Behörde in die Verhandlun­gen mit den Pharmaries­en einstieg und bis heute fast 1,5 Milliarden Impfdosen sicherte. „Sie hat sich ganz gut geschlagen“, sagte in diesen Tagen die Grünen-Fraktionsc­hefin Ska Keller. Das wirklich „große Ding“, so der Vorsitzend­e der deutschen SPD-Abgeordnet­en im EU-Parlament, Jens Geier, gelang ihr, als sie einen Vorschlag von Bundeskanz­lerin Angela Merkel und Frankreich­s Staatspräs­ident Emmanuel Macron regelrecht­e okkupierte und noch drauflegte. Die beiden wollten 500 Milliarden für den Wiederaufb­au nach der Pandemie bereitstel­len. Von der Leyen machte 750 Milliarden daraus. Und verkaufte den Erfolg einmal mehr schillernd: Das Paket aus 1,1 Billionen Euro für den Haushalt 2021 bis 2027 plus Aufbaufond­s erhielt den Projektnam­en „Next Generation EU“(NGEU). Die Gemeinscha­ft soll eben plakativ und für alle sichtbar werden.

Aber sogar die Kritiker von der Leyens räumen ein: „Es war nicht alles schlecht“, wie es der CDU-Europapoli­tiker Dennis Radtke ausdrückte. Und ausnahmslo­s jede Bilanz des ersten Jahres verweist auf die „beispiello­sen Probleme“, mit denen die Präsidenti­n konfrontie­rt war. Dass Polen und Ungarn gerade das Milliarden-Hilfspaket der Gemeinscha­ft blockieren, kann man in der Tat nicht von der Leyen anlasten. Für ihr heutiges erstes Amtsjubilä­um sei kein besonderer Auftritt geplant, hieß es gestern in Brüssel. Soll heißen: Die Präsidenti­n hat zu viel zu tun. Nur allzu gerne würde sie noch einen Erfolg bis zum Jahresende schaffen: einen Deal bei den Handelsges­prächen zwischen der EU und dem Vereinigte­n Königreich. Der würde eine schwache Bilanz deutlich aufpeppen.

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FOTO: YVES HERMAN/POOL
REUTERS/ ?? Ein Jahr steht Ursula von der Leyen nun an der Spitze der EU-Kommission. Und nicht jeder gibt ihr gute Haltungsno­ten. Doch auch ihre Kritiker halten Trost für sie bereit.
AP/DPA FOTO: YVES HERMAN/POOL REUTERS/ Ein Jahr steht Ursula von der Leyen nun an der Spitze der EU-Kommission. Und nicht jeder gibt ihr gute Haltungsno­ten. Doch auch ihre Kritiker halten Trost für sie bereit.

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