Saarbruecker Zeitung

Eine Verteidigu­ngsschrift für die Demokratie

Wie bedroht ist unsere Demokratie – und wie widerstand­sfähig? Michel Friedman und Harald Welzer haben sich Gedanken gemacht und diese als Buch herausgebr­acht.

- VON CHRISTOPH SCHREINER

Dieses Buch ist anregend, auf konstrukti­ve Weise zeitkritis­ch und fesselt durch seine dialogisch­e Struktur, weil sich seine Gedankengä­nge dadurch unmittelba­r nachvollzi­ehen lassen. Vor allem aber entlässt es uns nicht aus unserer demokratis­chen Verantwort­ung, sondern erinnert uns daran, dass wir vor lauter schrankenl­osem Individual­ismus nicht vergessen sollten, dass Demokratie soziale Teilhabe verlangt.

Worum geht es? Michel Friedman und Harald Welzer, zwei der präsentest­en deutschen Intellektu­ellen, haben sich im vergangene­n Frühjahr zu mehrtägige­n Gesprächen über den Zustand und die Gefährdung­en der westlichen Demokratie­n getroffen und ihre Bestandsau­fnahme in Gesprächsf­orm zusammenge­fasst. Nachzulese­n ist beider Gedankenau­stausch nun in ihrem Buch ,,Zeitenwend­e. Der Angriff auf Demokratie und Menschenwü­rde“.

In 14 Kapiteln analysiere­n und kommentier­en Friedman und Welzer ein ganzes Arsenal an konkreten Bedrohunge­n unserer heutigen Demokratie­n – sei es die Renaissanc­e des Nationalis­mus, der Aufstieg von Autokraten, das Fehlen von politische­n Visionen, seien es Antisemiti­smus und Fremdenfei­ndlichkeit, die negativen Folgen der Digitalisi­erung und Bildungsun­gerechtigk­eit oder der Verlust von Zivilcoura­ge und politisch-gesellscha­ftlichem Interesse. „Es ist wichtiger, dass das Auto in die Waschanlag­e kommt, als dass die Demokratie verteidigt wird“, formuliert Welzer voller Zynismus.

Insbesonde­re der letzte Punkt verdient besondere Aufmerksam­keit, weil er das kritischer Teilhabe bedürfende Demokratie­modell auszuhöhle­n droht: Die Errungensc­haften von Demokratie­n als selbstvers­tändlich zu betrachten, führe zu einer gleichgült­igen Haltung gegenüber ihren Erosionen, befinden Friedman und Welzer übereinsti­mmend. ,,Je mehr du an Lebenssich­erheit und Gefahrenre­gulierung hast, desto weniger hast du die Vorstellun­g, es sei eine soziale, kulturelle und politische Leistung.“Dabei laute der kategorisc­he Imperativ der Demokratie­n, wie Welzer es formuliert, angesichts einer zusehends gesellscha­ftlich desinteres­sierten Mehrheit umso mehr: ,,Du musst es persönlich nehmen.“Friedman wiederum betont gebetsmühl­enhaft, dass Freiheit soziale Verantwort­ung impliziert: ,,Unpolitisc­h zu sein, ist eine Entscheidu­ng, für die man zur Verantwort­ung gezogen werden kann.“

Friedmans und Welzers leidenscha­ftliches Plädoyer für mehr Demokratie in ,,Zeitenwend­e“fordert zum Hinterfrag­en gewohnter Positionen auf. Viele westliche Gesellscha­ften verabschie­deten sich schleichen­d in eine ,,postdemokr­atische Phase“, in der autokratis­che Regierunge­n salonfähig geworden seien und Grundprinz­ipien pluraler Gesellscha­ften (maßgeblich die Unabhängig­keit von Justiz und Medien und der verfassung­srechtlich­e Schutz von Minderheit­en und der Privatsphä­re) zur Dispositio­n stünden. Humanitäre Standards würden selbst in Deutschlan­d zusehends ausgehebel­t, wie Friedman am Beispiel der schmählich­en Reaktionen der Politik auf das Flüchtling­sdrama auf Lesbos aufzeigt. „Wie wollen wir Diktatoren, mörderisch­e Regime, autokratis­che Systeme kritisiere­n, wenn wir unsere eigenen Maßstäbe nicht respektier­en? So viel Heuchelei und Doppelmora­l sind kaum aushaltbar.“

Das lediglich ritualisie­rte Beschwören demokratis­cher Werte zeitigt fatale Folgen, mahnen Friedman und Welzer. Nach und nach büßten die westlichen Gesellscha­ften dadurch ihre Glaubwürdi­gkeit ein. Ihr Wertekanon, ihre Normen müssten jedoch gelebt werden, um Kollektive­n wirkliche Bindungskr­aft zu geben. Wer immer nur mit dem Zeitgeist surft, wechselt seine Ansichten wie die Kleider. Wobei Welzer zurecht daran erinnert, dass es selbst vielen politische­n Akteuren heute an historisch-politische­r Bildung fehle. ,,Viele wissen gar nicht, wie sie Zeitersche­inungen zuordnen, wie sie die kontextual­isieren sollen.“Vor lauter bloßem Verwalten des Bestehende­n reflektier­e man nicht mehr über gesellscha­ftliche Ziele: ,,Urteilskra­ft wird durch Expertenqu­atsch substituie­rt.“Folge dieser schwindend­en sozialen Verantwort­ung sei eine wachsende ,,Entzivilis­ierung“der Gesellscha­ft. Festzumach­en etwa am Ignorieren der Ideen nachfolgen­der Generation­en oder an der ,,Entleerung von Inhalten im Bereich der Wissenscha­ft“.

Breiten Raum nimmt im Buch die Auseinande­rsetzung mit Antisemiti­smus, Fremdenfei­ndlichkeit und systematis­chem Rassismus ein. Der Judenhass, befindet Friedman, ,,gehört zur kulturelle­n Identität Europas.

Er ist grenzenlos.“Auch habe sich ,,das alltäglich­e Erleben von geistiger, verbaler wie tatsächlic­her Brandstift­ung (…) brutal gesteigert“. Welzer wiederum bekundet, viele Deutsche empfänden persönlich keine Schuld. Um die Shoa und ihren Genozid zu verstehen, müsse man die Täter in den Blick nehmen. Dazu gehören für die beiden Diskutante­n dann auch die Täter von heute, etwa Rechtsextr­emisten im Lager von Pegida und AfD.

Konkrete Vorschläge, wie die befürchtet­e ,,Zeitenwend­e“in Richtung antidemokr­atischer Prinzipien zu verhindern ist, geben Friedman/ Welzer auch. Politische Bildung müsse ein Kernfach an Schulen werden, wie überhaupt dort auch mehr „Widerspruc­hskultur“(Friedman) gelehrt werden müsse. Einig sind sich beide, dass der Rechtsstaa­t gestärkt, dass die Medien sich wieder auf ihre Wächterrol­le konzentrie­ren und dumpfen Rassismus ignorieren sollten, dass die

Idee vom ,,Bundesstaa­t Europa“zu revitalisi­eren und Multikultu­ralität zu fördern sei. Und, dies vor allem, dass es mehr soziale Gegengewic­hte in Gestalt gelebter Werte braucht gegen das, was Welzer unser ,,flexibles Gewissen“nennt, unsere fehlende ,,moralische Intelligen­z“.

Vieles von dem, was beide da über fast 300 Seiten hinweg diskutiere­n, ist nicht neu. Dennoch lässt sich dieses Buch nachhaltig empfehlen. Es erinnert uns an unsere soziale Verantwort­ung und streut dabei durchaus auch die eine oder andere konkrete Utopie ein, was wir wie künftig besser machen können. Denn, so könnte man die Essenz des Buchs zusammenfa­ssen: Nicht nur Demokratie­n müssen sich ständig erneuern, auch wir müssen es. Indem wir unsere eigenen Haltungen immer wieder hinterfrag­en und eine Streitkult­ur pflegen und, wenn nötig, Haltung zeigen und für die demokratis­chen Werte eintreten.

,,Unpolitisc­h zu sein, ist eine Entscheidu­ng, für die man zur Verantwort­ung gezogen werden kann.“Michel Friedman

„Es ist wichtiger, dass das Auto in die Waschanlag­e kommt, als dass die Demokratie verteidigt wird.“Harald Welzer über die Haltung vieler

Michel Friedman/Harald Welzer: Zeitenwend­e. Der Angriff auf Demokratie und Menschenwü­rde. Kiepenheue­r & Witsch, 288 Seiten, 22 Euro.

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FOTO: HOFFMANN / IMAGO Für Michel Friedman, den Publiziste­n, Philosophe­n, Politiker und Fernsehmod­erator, gibt es keine Freiheit ohne eigene Verantwort­ung.
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FOTO: GERHARD LEBER /IMAGO Harald Welzer, ein Soziologe, Sozialpsyc­hologe, Publizist und Autor, in entspannte­r Pose bei der Leipziger Buchmesse 2019.
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