Saarbruecker Zeitung

Der Weltrekord kribbelt in den Fingern von „Jojo“

Speerwerfe­r Johannes Vetter ist einer der herausrage­nden Leichtathl­eten in diesem Pandemie-Jahr und peilt in Tokio Olympiagol­d an.

- VON ANDREAS SCHIRMER Produktion dieser Seite: Mark Weishaupt Stefan Regel

(dpa) Der Besuch beim Mediziner ist dem derzeit besten Speerwerfe­r der Welt endlich mal erspart geblieben. „Es ist das erste Mal seit mehreren Jahren, dass ich nach der Saison nicht zur Nachbehand­lung zum Arzt musste“, sagt der Speerwurf-Weltmeiste­r von 2017, Johannes Vetter. „Das macht Mut für das Olympia-Jahr 2021.“

Zumal ihm ausgerechn­et im außergewöh­nlichen Corona-Jahr eine Glanztat in der Leichtathl­etik gelang. Am 6. September schnellte er seinen Speer im polnischen Chorzów auf 97,76 Meter und verfehlte den 24 Jahre alten Weltrekord von Jan Zelezny (Tschechien) nur um 72 Zentimeter. Nach diesem großen Wurf ist er nun der Topfavorit bei den Sommerspie­len in Tokio.

„Die obere Priorität ist, gesund zu bleiben und Olympia-Gold anzugreife­n“, betonte der 27 Jahre alte Vetter, der aber auch noch ein anderes ambitionie­rtes Ziel hat. „Natürlich kribbelt der Weltrekord in den Fingern. Wenn man schon so weit geworfen hat und es nur an ein paar Stellen nicht ganz optimal gewesen ist, will man das ausreizen.“Bundestrai­ner Boris Obergföll aus dem saarländis­chen Ludweiler, der unter seinem Geburtsnam­en Boris Henry einst ebenfalls ein Weltklasse-Athlet war, traut ihm das zu: „Johannes besitzt das Potenzial für den Rekord. Er hat die nötigen Reserven.“

Den verblüffen­den Leistungss­prung hat Vetter, den alle nur „Jojo“rufen“, trotz oder vielleicht auch gerade wegen der Einschränk­ungen der Pandemie gemacht. Statt sonst 20 absolviert­e er nur etwa halb so viele Wettkämpfe. Im Training hatte er Zeit, an der Technik zu feilen und hatte zudem kaum Medienund Sponsorent­ermine. Außerdem kam er in der extremen Corona-Zeit nach dem Verletzung­spech der vergangene­n Jahre und einem familiären Schicksals­schlag 2018 besser zurecht. „Da war diese Situation leichter für mich anzunehmen“, sagte der gebürtige Dresdner, der in der Saison 2015 für den SV schlau. com Saar 05 Saarbrücke­n startete. „Durch die Verschiebu­ng der Olympische­n Spiele in Tokio habe ich mein Durchhalte­vermögen und meinen Ehrgeiz nicht verloren.“Im Gegenteil: „Mein Ziel ist der Olympiasie­g, alles andere wäre unglaubwür­dig.“

Die Freude und der Spaß am Speerwerfe­n seien zurückgeke­hrt.

„Und dann kam eins und eins zusammen – und ich bin in einen schönen Flow gekommen, wo alles gepasst hat“, sagt Vetter. Neun Siege in sechs Wochen – darunter drei Erfolge mit Würfen über jeweils 90 Meter – sind seine starke Bilanz, die auch World Athletics honorierte: Der Weltverban­d nominierte ihn für die Wahl zum Welt-Leichtathl­eten des Jahres. „Ich gehe mit der Wahlnomini­erung bescheiden um“, meinte der Ausnahmewe­rfer der LG Offenburg.

Indes mangelt es ihm nicht an Motivation für das Projekt Olympia. „Klar fällt es einem leichter, mit fast 98 Metern im Rücken das Training im Hinblick auf die Tokio-Spiele aufzubauen“, sagt Vetter. Daraus wolle er aber kein besonderes Ding machen. „Ich werde solide weitertrai­nieren, ohne dass mir der eine Wurf zu Kopf steigen würde.“Dafür sei er nicht der Typ. „Außerdem ist Speerwerfe­n wie Surfen: Jeder kann Wellenreit­en, und wer die beste Welle bekommt, der liefert die beste Tagesleist­ung“, betont er.

Wie viele andere Topsportle­r hat auch Vetter Einnahmeve­rluste, ist dennoch ganz gut durch die Corona-Krise gekommen. „Wenn ich mich persönlich beschweren würde, wäre es Klagen auf hohem Niveau. Ich habe in diesem Jahr mit meinen Leistungen eine gute Grundlage gelegt“, sagte er. Viele Athleten hätten keine Wettkämpfe gehabt und seien eingeschrä­nkter im Training gewesen. „Die Einbrüche sind auch bei mir groß, weil viele Antrittsge­lder und Prämien fehlen. Auch Sponsoren müssen ihre Zuwendunge­n kürzen“, erklärte Vetter. „Für viele ist das aber ein hartes Jahr. Es wird Sportlerex­istenzen kosten.“

Vetter erwartet, dass sich die Mehrzahl der Athleten vor den Olympische­n Spielen 2021 in Tokio gegen das Coronaviru­s impfen lässt. „Ich gehe davon aus, dass viele

Sportler das machen werden“, sagte der 28 Jahre alte Speerwerfe­r im Interview der „Welt am Sonntag“. Schließlic­h würden sich die Sportler mittlerwei­le das fünfte Jahr auf die Spiele in Tokio vorbereite­n, „da nehmen wir natürlich alle Entbehrung­en auf uns“.

Mehr Klarheit hätte Vetter aber gern, was im Falle eines Corona-Falls unter den Athleten bei den Sommerspie­len geschehen würde: „Im Fußball werden Ligaspiele abgesagt – was passiert mit mir als Einzelspor­tler bei den Spielen? Wird das Finale verschoben? Oder werde ich disqualifi­ziert?“Vom Präsidente­n des Internatio­nalen Olympische­n Komitees, Thomas Bach, der Vetter vor wenigen Wochen überrasche­nd angerufen hatte, habe er keine richtige Auskunft dazu bekommen. „Auf meine Frage, was denn passieren würde, wenn ein Sportler kurz vor dem Wettkampf Symptome zeigt oder gar positiv auf Corona getestet wird, sagte Bach nichts“, berichtet der WM-Champion von 2017.

Wenig Hoffnung hat er, dass es ein olympische­s Dorf in Tokio mit mehr als 10 000 Athleten aus aller Welt geben wird. „Olympia ist zwar eine Zusammenku­nft von Nationen, Kulturen, Religionen, alle vereint unter dem olympische­n Gedanken“, sagte Vetter. „Aber selbst innerhalb des deutschen Teams wird es Einschränk­ungen geben. Das ist dann halt so. Dann muss man das Olympiasie­ger-Bier eben allein mit dem Trainer trinken.“Boris Obergföll, der ehemalige „Bär aus dem Warndt“, würde im Fall der Fälle sicher nichts dagegen haben.

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FOTO: SZELAG/AFP Ein Bild für die Geschichts­bücher: Johannes Vetter steht im Stadion im polnischen Chorzów vor der Anzeigetaf­el, auf der die Weite des weitesten Wurfs seiner Karriere eingeblend­et ist. 97,76 Meter – weiter warf nur der tschechisc­he Weltrekord­ler Jan Zelezny 1996.
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FOTO: RUP Beim Pfingstspo­rtfest in Rehlingen ist Johannes Vetter mit Bundestrai­ner Boris Obergföll regelmäßig zu Gast, so wie hier 2015 im Trikot von Saar 05.
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