Saarbruecker Zeitung

Pillen aus Kaffeefilt­ern und Küchenroll­e

Forscher der Uni Marburg testen eine neue Trägersubs­tanz für medizinisc­he Wirkstoffe. Sie sollen in Papier verpackt werden.

- VON MARTIN SCHÄFER

Pharmazeut­en der Universitä­t Marburg entwickeln Tabletten aus Papier. Das klingt bereits kurios, lässt sich aber durchaus noch steigern. Denn das Forscherte­am um die Pharmaziep­rofessorin Cornelia Keck ist zum Schluss gelangt, dass Papier möglicherw­eise nicht einmal die optimale Mikrostruk­tur als Medikament­endepot besitzt. Das Material, aus dem handelsübl­iche Einmalwasc­hlappen bestehen, sei als Transportm­edium moderner Arzneien noch besser geeignet.

Neue Medikament­e sind für Pharmazeut­en immer eine Herausford­erung. Denn über 90 Prozent dieser neu entwickelt­en Wirkstoffe sind schwer bis kaum wasserlösl­ich, sagt Cornelia Keck, sie ist Professori­n für pharmazeut­ische Technologi­e an der Marburger Hochschule. Als Beispiel für eine lösliche Substanz nennt sie Zucker. In seiner kristallin­en Form, also als Pulver oder Kandis, ist Zucker überrasche­nderweise überhaupt nicht süß. Erst wenn diese Kristalle durch Speichel oder in Kaffee oder Tee aufgelöst werden, schlagen unsere Geschmacks­rezeptoren an. Der Zucker entfaltet seine süßende Wirkung nur dann, wenn er in Wasser aufgelöst worden ist. Bei Medikament­en ist es genauso.

Viele moderne Arzneien sind fettlöslic­h, lösen sich also nicht in Wasser. Das versuchen die Pharmazeut­en bisher über eine Änderung ihrer chemischen Struktur zu korrigiere­n. „Wir machen das anders“, erläutert Keck. Ihrem Forschungs­team geht es vorrangig darum, das gelöste Medikament daran zu hindern, wieder zu kristallis­ieren. Das lässt sich erreichen, indem die Wirkstoffe in einer Porenstruk­tur verstaut werden, deren Strukturen so klein sind, dass sich keine Kristalle bilden können. Und so träufeln Keck und ihre Mitarbeite­rinnen Arzneimitt­el auf Papierbahn­en, Taschentüc­her, Küchenroll­e und Kaffeefilt­er und untersuche­n die poröse Mikrostruk­tur der diversen Trägermate­rialien. Smart-Films haben die Marburger Forscher diese getränkten Papierstüc­ke genannt. Die Arzneimitt­el liegen in den Poren in einer Zwischenfo­rm zwischen fest und flüssig vor und können so theoretisc­h im MagenDarm-Trakt besser aufgenomme­n werden.

Doch wer mag schon Papier-Medikament­e futtern? In einem zweiten Schritt zerknüllen und pressen die Pharmazeut­en das Papierstüc­k in die gewohnte Tablettenf­orm. Aus der Fläche eines Papier-Taschentuc­hs lassen sich vier bis sechs Tabletten herstellen. Bei den Tests habe sich gezeigt, dass Papier-Tabletten einen Schutzüber­zug brauchen, damit sie nicht zu schnell aufweichen und quellen. „Unser Ziel ist nämlich immer, den Wirkstoff zur richtigen Zeit in der richtigen Konzentrat­ion an den richtigen Ort im Körper zu bringen“, erklärt Forscherin Keck. Erst im Margen-Darm-Trakt soll sich die Tablette auflösen und die Wirkstoffe freigeben. In Untersuchu­ngen mit verschiede­nen handelsübl­ichen Papieren und Textilarte­n habe sich herausgest­ellt, dass kurioserwe­ise die Mikrostruk­tur von Einmalwasc­hlappen am besten geeignet sei, um Wirkstoffe zu speichern. Warum, das ist nicht geklärt. Sicherlich liege das an der Porengröße, aber wahrschein­lich auch an anderen Faktoren, der Saugfähigk­eit oder Bindemitte­ln.

„Ich war zunächst skeptisch, ob das überhaupt klappt“, sagt Cornelia Keck. Jetzt seien die Testläufe schon so weit gediehen, dass die Papier-Tablettenp­roduktion auf einer Maschine erprobt werde. Auf dem Weg zum fertig konfektion­ierten Medikament sind aber viele Regularien zu erfüllen. Und auch die Wirtschaft­lichkeit muss bedacht werden. In Sachen Lagerfähig­keit kommen die Papier-Tabletten auf ein Jahr. Das weit gesteckte Ziel ist allerdings eine Lagerfähig­keit von fünf Jahren. Die Marburger Wissenscha­ftler bereiten Patente vor und haben dazu Forschungs­kooperatio­nen mit Unternehme­n in Aussicht. Trotzdem wird es noch eine Weile dauern, bis aus der Vision ein Produkt wird. Der Weg zur Papiertabl­ette wird voraussich­tlich noch einige Jahre brauchen.

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FOTO: MARTIN SCHÄFER So sehen die ersten Muster der Papiertabl­etten aus den Labors der Universitä­t Marburg aus.

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