Pillen aus Kaffeefiltern und Küchenrolle
Forscher der Uni Marburg testen eine neue Trägersubstanz für medizinische Wirkstoffe. Sie sollen in Papier verpackt werden.
Pharmazeuten der Universität Marburg entwickeln Tabletten aus Papier. Das klingt bereits kurios, lässt sich aber durchaus noch steigern. Denn das Forscherteam um die Pharmazieprofessorin Cornelia Keck ist zum Schluss gelangt, dass Papier möglicherweise nicht einmal die optimale Mikrostruktur als Medikamentendepot besitzt. Das Material, aus dem handelsübliche Einmalwaschlappen bestehen, sei als Transportmedium moderner Arzneien noch besser geeignet.
Neue Medikamente sind für Pharmazeuten immer eine Herausforderung. Denn über 90 Prozent dieser neu entwickelten Wirkstoffe sind schwer bis kaum wasserlöslich, sagt Cornelia Keck, sie ist Professorin für pharmazeutische Technologie an der Marburger Hochschule. Als Beispiel für eine lösliche Substanz nennt sie Zucker. In seiner kristallinen Form, also als Pulver oder Kandis, ist Zucker überraschenderweise überhaupt nicht süß. Erst wenn diese Kristalle durch Speichel oder in Kaffee oder Tee aufgelöst werden, schlagen unsere Geschmacksrezeptoren an. Der Zucker entfaltet seine süßende Wirkung nur dann, wenn er in Wasser aufgelöst worden ist. Bei Medikamenten ist es genauso.
Viele moderne Arzneien sind fettlöslich, lösen sich also nicht in Wasser. Das versuchen die Pharmazeuten bisher über eine Änderung ihrer chemischen Struktur zu korrigieren. „Wir machen das anders“, erläutert Keck. Ihrem Forschungsteam geht es vorrangig darum, das gelöste Medikament daran zu hindern, wieder zu kristallisieren. Das lässt sich erreichen, indem die Wirkstoffe in einer Porenstruktur verstaut werden, deren Strukturen so klein sind, dass sich keine Kristalle bilden können. Und so träufeln Keck und ihre Mitarbeiterinnen Arzneimittel auf Papierbahnen, Taschentücher, Küchenrolle und Kaffeefilter und untersuchen die poröse Mikrostruktur der diversen Trägermaterialien. Smart-Films haben die Marburger Forscher diese getränkten Papierstücke genannt. Die Arzneimittel liegen in den Poren in einer Zwischenform zwischen fest und flüssig vor und können so theoretisch im MagenDarm-Trakt besser aufgenommen werden.
Doch wer mag schon Papier-Medikamente futtern? In einem zweiten Schritt zerknüllen und pressen die Pharmazeuten das Papierstück in die gewohnte Tablettenform. Aus der Fläche eines Papier-Taschentuchs lassen sich vier bis sechs Tabletten herstellen. Bei den Tests habe sich gezeigt, dass Papier-Tabletten einen Schutzüberzug brauchen, damit sie nicht zu schnell aufweichen und quellen. „Unser Ziel ist nämlich immer, den Wirkstoff zur richtigen Zeit in der richtigen Konzentration an den richtigen Ort im Körper zu bringen“, erklärt Forscherin Keck. Erst im Margen-Darm-Trakt soll sich die Tablette auflösen und die Wirkstoffe freigeben. In Untersuchungen mit verschiedenen handelsüblichen Papieren und Textilarten habe sich herausgestellt, dass kurioserweise die Mikrostruktur von Einmalwaschlappen am besten geeignet sei, um Wirkstoffe zu speichern. Warum, das ist nicht geklärt. Sicherlich liege das an der Porengröße, aber wahrscheinlich auch an anderen Faktoren, der Saugfähigkeit oder Bindemitteln.
„Ich war zunächst skeptisch, ob das überhaupt klappt“, sagt Cornelia Keck. Jetzt seien die Testläufe schon so weit gediehen, dass die Papier-Tablettenproduktion auf einer Maschine erprobt werde. Auf dem Weg zum fertig konfektionierten Medikament sind aber viele Regularien zu erfüllen. Und auch die Wirtschaftlichkeit muss bedacht werden. In Sachen Lagerfähigkeit kommen die Papier-Tabletten auf ein Jahr. Das weit gesteckte Ziel ist allerdings eine Lagerfähigkeit von fünf Jahren. Die Marburger Wissenschaftler bereiten Patente vor und haben dazu Forschungskooperationen mit Unternehmen in Aussicht. Trotzdem wird es noch eine Weile dauern, bis aus der Vision ein Produkt wird. Der Weg zur Papiertablette wird voraussichtlich noch einige Jahre brauchen.