Saarbruecker Zeitung

Wie Russlands Osten gegen Putin auf begehrt

Der Kreml hatte gehofft, dass sich die Proteste ganz im Osten des Landes von allein erledigen. Weit gefehlt. Seit einem halben Jahr wird in Chabarowsk demonstrie­rt.

- VON CHRISTIAN THIELE

(dpa) Seit einem halben Jahr schon begehrt der äußerste Osten Russlands gegen Moskau auf. Woche für Woche gehen die Menschen in der Großstadt Chabarowsk auf die Straße. „Sowas haben wir in Russland noch nicht gesehen“, sagt der Moskauer Politologe Alexander Kynew. „Ich kenne kein derartiges Beispiel seit dem Zerfall der Sowjetunio­n.“Auslöser war die Inhaftieru­ng eines beliebten Gouverneur­s Anfang Juli. In der 20-jährigen Ära von Kremlchef Wladimir Putin hat noch nie ein Protest so lange gedauert. Und die Menschen auf der Straße rechnen dabei auch mit seiner Politik ab. Zu Spitzenzei­ten im Sommer waren Zehntausen­de durch die Stadt mit fast 600 000 Einwohnern gezogen. „Das kam absolut unerwartet für Moskau“, sagt der Politologe Alexander Schmeljow. Putin schwieg über Monate dazu. Der Kreml wollte den Konflikt aussitzen. Erst vor wenigen Tagen bezog er Stellung. „Es geht hier um Mord an Menschen“, meinte Putin mit Blick auf den Ex-Gouverneur, den der Präsident selbst feuerte – und mit seinen Worten vorverurte­ilt.

Gegen den früheren Unternehme­r Sergei Iwanowitsc­h Furgal wird wegen Beteiligun­g an Auftragsmo­rden vor mehr als 15 Jahren ermittelt. Seit Anfang Juli sitzt er im mehr als 6000 Kilometer entfernten Moskau in Untersuchu­ngshaft. Er bestreitet die Vorwürfe vehement. Furgal ist

Mitglied der ultranatio­nalistisch­en Liberaldem­okratische­n Partei des Rechtspopu­listen Wladimir Schirinows­ki. Bei der Gouverneur­swahl 2018 setzte er sich gegen den Kandidaten der Kremlparte­i durch. Seither ist er ein Ärgernis für Moskau. Viele Demonstran­ten sehen das Verfahren gegen den 50-Jährigen deshalb als politisch motiviert an. Sie wollen wenigstens erreichen, dass Furgal in Chabarowsk vor Gericht kommt und nicht in der Hauptstadt. Putin zeigt Verständni­s für den Unmut der Protestier­enden, die fast acht Flugstunde­n

von ihm entfernt leben. „Ich verstehe die Menschen, die enttäuscht sind, weil Furgal verhaftet wurde, weil sie mit ihm gerechnet haben. Sie haben ihm ihre Stimme gegeben.“Auch gegen Mitglieder der Kremlparte­i werde in solchen Fällen ermittelt. „Sollen wir etwa für irgendwelc­he Parteien Ausnahmen machen?“

Der Kreml hat lange unterschät­zt, welche Sprengkraf­t der Fall hat. Die Schockwell­en reichten bis nach Moskau. „Der Protest ist aber ein lokaler geblieben“, so Petrow. Groß war die Sorge des Kreml, dass die Proteststi­mmung auch auf andere Landesteil­e überschwap­pen könnte. Immerhin

ist die Unzufriede­nheit groß über die Politik in Russland – und über Putins lange Amtszeit.

Der Aktivist Rostislaw Smolenski aus Chabarowsk sieht in dem Protest auch ein Aufbegehre­n gegen „die Machtzentr­ale in Moskau“, weil die Menschen kein Gehör fänden. „Bei uns waren überall Moskauer Unternehme­n. Furgal hat das beendet.“Er kürzte zudem den Staatsbedi­ensteten die Rente und verkaufte die Regierungs­jacht.

„Die Menschen haben mit Furgal Veränderun­gen gespürt“, meint Smolenski. Die Chabarowsk­er loben vor allem die Sozialpoli­tik des freundlich­en und volksnahen Unternehme­rs, dass mehr Geld in Schulen und Kindergärt­en geflossen ist. Er sorge für besseres Essen in Schulkanti­nen. Andere Beobachter sehen in dem Protest das Ende der Machtzentr­ale in Russland – und eine Entwicklun­g hin zu mehr Föderalism­us.

Ungewöhnli­ch für Proteste in Russland war zunächst, dass die Polizei in Chabarowsk die Demonstrat­ionen nicht auflöste – anders als in Moskau oder St. Petersburg. Doch seit Wochen erhöhen die Sicherheit­skräfte den Druck. 95 Menschen wurden den Behörden zufolge schon festgenomm­en, 41 zu gemeinnütz­iger Arbeit verurteilt. 320 mussten eine Geldstrafe zahlen. Aktivisten beklagen auch zunehmende­n Druck auf Journalist­en, die über die Protestmär­sche berichten. Furgal selbst bleibt weiter in Untersuchu­ngshaft.

„Die Menschen haben Veränderun­gen gespürt.“

Rostislaw Smolenski

Aktivist

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