Wie Russlands Osten gegen Putin auf begehrt
Der Kreml hatte gehofft, dass sich die Proteste ganz im Osten des Landes von allein erledigen. Weit gefehlt. Seit einem halben Jahr wird in Chabarowsk demonstriert.
(dpa) Seit einem halben Jahr schon begehrt der äußerste Osten Russlands gegen Moskau auf. Woche für Woche gehen die Menschen in der Großstadt Chabarowsk auf die Straße. „Sowas haben wir in Russland noch nicht gesehen“, sagt der Moskauer Politologe Alexander Kynew. „Ich kenne kein derartiges Beispiel seit dem Zerfall der Sowjetunion.“Auslöser war die Inhaftierung eines beliebten Gouverneurs Anfang Juli. In der 20-jährigen Ära von Kremlchef Wladimir Putin hat noch nie ein Protest so lange gedauert. Und die Menschen auf der Straße rechnen dabei auch mit seiner Politik ab. Zu Spitzenzeiten im Sommer waren Zehntausende durch die Stadt mit fast 600 000 Einwohnern gezogen. „Das kam absolut unerwartet für Moskau“, sagt der Politologe Alexander Schmeljow. Putin schwieg über Monate dazu. Der Kreml wollte den Konflikt aussitzen. Erst vor wenigen Tagen bezog er Stellung. „Es geht hier um Mord an Menschen“, meinte Putin mit Blick auf den Ex-Gouverneur, den der Präsident selbst feuerte – und mit seinen Worten vorverurteilt.
Gegen den früheren Unternehmer Sergei Iwanowitsch Furgal wird wegen Beteiligung an Auftragsmorden vor mehr als 15 Jahren ermittelt. Seit Anfang Juli sitzt er im mehr als 6000 Kilometer entfernten Moskau in Untersuchungshaft. Er bestreitet die Vorwürfe vehement. Furgal ist
Mitglied der ultranationalistischen Liberaldemokratischen Partei des Rechtspopulisten Wladimir Schirinowski. Bei der Gouverneurswahl 2018 setzte er sich gegen den Kandidaten der Kremlpartei durch. Seither ist er ein Ärgernis für Moskau. Viele Demonstranten sehen das Verfahren gegen den 50-Jährigen deshalb als politisch motiviert an. Sie wollen wenigstens erreichen, dass Furgal in Chabarowsk vor Gericht kommt und nicht in der Hauptstadt. Putin zeigt Verständnis für den Unmut der Protestierenden, die fast acht Flugstunden
von ihm entfernt leben. „Ich verstehe die Menschen, die enttäuscht sind, weil Furgal verhaftet wurde, weil sie mit ihm gerechnet haben. Sie haben ihm ihre Stimme gegeben.“Auch gegen Mitglieder der Kremlpartei werde in solchen Fällen ermittelt. „Sollen wir etwa für irgendwelche Parteien Ausnahmen machen?“
Der Kreml hat lange unterschätzt, welche Sprengkraft der Fall hat. Die Schockwellen reichten bis nach Moskau. „Der Protest ist aber ein lokaler geblieben“, so Petrow. Groß war die Sorge des Kreml, dass die Proteststimmung auch auf andere Landesteile überschwappen könnte. Immerhin
ist die Unzufriedenheit groß über die Politik in Russland – und über Putins lange Amtszeit.
Der Aktivist Rostislaw Smolenski aus Chabarowsk sieht in dem Protest auch ein Aufbegehren gegen „die Machtzentrale in Moskau“, weil die Menschen kein Gehör fänden. „Bei uns waren überall Moskauer Unternehmen. Furgal hat das beendet.“Er kürzte zudem den Staatsbediensteten die Rente und verkaufte die Regierungsjacht.
„Die Menschen haben mit Furgal Veränderungen gespürt“, meint Smolenski. Die Chabarowsker loben vor allem die Sozialpolitik des freundlichen und volksnahen Unternehmers, dass mehr Geld in Schulen und Kindergärten geflossen ist. Er sorge für besseres Essen in Schulkantinen. Andere Beobachter sehen in dem Protest das Ende der Machtzentrale in Russland – und eine Entwicklung hin zu mehr Föderalismus.
Ungewöhnlich für Proteste in Russland war zunächst, dass die Polizei in Chabarowsk die Demonstrationen nicht auflöste – anders als in Moskau oder St. Petersburg. Doch seit Wochen erhöhen die Sicherheitskräfte den Druck. 95 Menschen wurden den Behörden zufolge schon festgenommen, 41 zu gemeinnütziger Arbeit verurteilt. 320 mussten eine Geldstrafe zahlen. Aktivisten beklagen auch zunehmenden Druck auf Journalisten, die über die Protestmärsche berichten. Furgal selbst bleibt weiter in Untersuchungshaft.
„Die Menschen haben Veränderungen gespürt.“
Rostislaw Smolenski
Aktivist