Saarländer kämpft um Recht auf Cannabis-Rezept
Bei den drei größten Krankenkassen in Deutschland sind 2019 rund 13 500 Erstanträge auf eine Cannabis-Therapie eingegangen.
Als das Hirnaneurysma 2018 platzt, ist Michael F. gerade 38 Jahre alt. Die Hirnblutung versetzt ihn vier Wochen ins Koma. Seither leidet er unter starken Kopfschmerzen und Schlaflosigkeit. Die Ärzte bekämpfen die Schmerzen mit Opioiden – die Standardtherapie. Sie geben Michael Tilidin. „Mir hat es nicht geholfen. Ich hatte nur ein Gefühl, als ob ich neben mir stehe“, sagt der heute 40-Jährige. Antidepressiva helfen ihm nicht, auch Morphium nicht. Im Gegenteil: Nach drei Wochen ist Michael abhängig, muss einen einwöchigen Entzug durchmachen. Dazu kommt im vergangenen Jahr noch ein Schlaganfall. Das Einzige, was seine Schmerzen lindere, sei Cannabis. „Ich hab es mit einem Freund getestet und bin damit beschwerdefrei“, erklärt F.. Doch diese Medizin will ihm seine Krankenkasse nicht bezahlen. Sie hat eine Cannabis-Therapie abgelehnt. „Ich wünsche niemandem etwas Böses, aber derjenige der das entschieden hat, müsste mal zwei Tage in meinem Körper leben“, fasst Michael seine Gefühlswelt bitter zusammen.
Seit dreieinhalb Jahren ist in Deutschland Gesetz, dass Ärzte schwerkranken Menschen Cannabis verordnen dürfen. Mehr noch: Die Krankenkassen müssen für die Kosten aufkommen. Ärzte verordneten von Januar bis September 2020 laut Arzneimittel-Schnellinformation des Spitzenverbands Bund der Krankenkassen (GKV-Spitzenverband) mehr als 240 000 Cannabisrezepte. Tendenz steigend. Zwei Jahre zuvor waren es nur 128 000. Bei den drei größten Kassen in Deutschland sind 2019 bundesweit insgesamt rund 13 500 Erstanträge auf eine Cannabis-Therapie eingegangen.
Die Ablehnungsquoten schwanken auf hohem Niveau zwischen 32,7 Prozent und 44 Prozent. Auch den Antrag von Michael hat die Kasse abgelehnt. Und tat das, obwohl Michaels Psychiater ebenso wie sein Neurologe die Behandlung mit Cannabis empfohlen hatten. „Ich will einfach nur schmerzfrei leben“, sagt der Mann, der seinen wahren Namen nicht in der Zeitung lesen will. Die saarländischen Krankenkassen haben im vergangenen Jahr 428 Fälle zur Entscheidung an den Medizinischen
Dienst der Krankenkassen (MDK) abgegeben – und orientieren sich daran. In 201 Fällen hat der MDK eine positive Empfehlung abgegeben. Zum Fall von Michael will sich der MDK nicht äußern. Der Dienst erklärt zur Ablehnung, dass bei Michael nicht alle Kriterien für eine Kostenübernahme erfüllt seien. Laut MDK-Gutachten gebe es für Michael noch „eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung“als Alternative. Damit meint der MDK die Behandlung mit Opioiden. Dass Michael diese genommen und nicht vertragen habe, sei gegenüber der Kasse nicht ausreichend belegt. Für Michael F. ist das eine Katastrophe.
Auf die Frage, warum Opioide den Cannabinoiden vorzuziehen seien, wenn Patienten berichten, dass ihnen die Cannabis-Behandlung besser helfe, schreibt der MDK: „Die subjektive Patientenpräferenz im Hinblick auf ein begehrtes Präparat kann nicht das bevorzugte Kriterium darstellen, um eine Leistungspflicht der Kasse zu begründen.“Ein Argument für die Ablehnung sei, dass bei Cannabis keine schmerzstillende Wirkung nachgewiesen wäre, bei Opioiden hingegen schon. Eine Begleitstudie des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) soll bis 2022 klären, wie gut Cannabis tatsächlich wirkt und ob es Kassenleistung bleiben soll. Wer sich mit Medizinal-Cannabis behandeln lässt, muss daran teilnehmen, ansonsten kann die Kasse die Kostenübernahme verweigern.
Die fehlenden Studien seien neben den Kosten die Krux bei Medizinal-Cannabis, erklärt der GKV. Bislang gebe es keine verlässlichen Informationen zu Neben- und Wechselwirkungen mit anderen Substanzen, zu medizinischen Einsatzgebieten oder Patienten. Auch im „Cannabis-Report“aus dem Jahr 2019, den die Techniker Krankenkasse ( TK) beim Forschungszentrum Socium an der Uni Bremen in Auftrag gegeben hat, heißt es, die Studienlage sei „noch lückenhaft“.
Unbestritten sei: Cannabis wirke gegen Übelkeit und Erbrechen, oder auch zur Appetitstimulation etwa bei Krebspatienten nach einer Chemotherapie oder bei HIV-Patienten. Außerdem deute die bisherige Studienlage auf eine mögliche Wirksamkeit von medizinischem Cannabis beim Tourette-Syndrom, bei Rückenmarksverletzungen und bei Morbus Crohn hin. Keine Wirksamkeit sei hingegen bei Demenz, Psychosen, Depressionen, Glaukom oder Darmerkrankungen gegeben.
Die genauen Kosten für eine Cannabis-basierte Behandlung hängen nach Angaben der Techniker Krankenkasse (TK) von der Darreichungsform ab. Fest steht: Sie sind teuer. Blüten kosten zwischen 300 und 2200 Euro pro Monat. Dronabinol-Kapseln oder -Tropfen kosten 70 Euro bis 500 Euro monatlich. Ärzte können zwar auch ohne Zustimmung der Kassen Schwerkranken die Cannabis-Medikamente verschreiben, die Patienten müssten diese dann aber selbst bezahlen. Wer sich das nicht leisten könne, werde in die Illegalität gedrängt oder bleibe unzureichend behandelt, sagt Franjo Grotenhermen von der Arbeitsgemeinschaft Cannabis als Medizin. Cannabis sei in Deutschland so teuer wie in keinem anderen Land. Das liege vor allem daran, dass Cannabisblüten als Rezepturarzneien gelten.
Dadurch dürften Apotheker laut Arzneimittel-Preisverordnung beim Verkauf einen 100-prozentigen Zuschlag auf den Einkaufspreis berechnen. Die gelieferte Ware werde dabei gar nicht weiterverarbeitet, sondern nur geöffnet und kontrolliert. Würde Cannabis wie in anderen Ländern als Fertigarznei eingestuft, entfiele der Aufschlag, sagt Grotenhermen.
Der Preis ist auch für Michael F. ein großes Problem, weshalb er sich Cannabis derzeit „privat“besorgt. Er verdampft das Cannabis zweimal am Tag, ist damit aber nicht so richtig glücklich: „Ich kann das so kaum richtig dosieren, mein THC-Spiegel ist immer zu hoch. Zudem fühlt es sich nicht richtig an, morgens schon Cannabis zu inhalieren.“
In Tropfenform sei die richtige Dosierung viel leichter zu erreichen. Bei seinem Verbrauch fürchtet er Kosten von mehr als 500 Euro im Monat, wenn er die Medikamente aus der Apotheke beziehen würde. Das ist nicht bezahlbar für den 40-Jährigen, der seit seiner Erkrankung nicht mehr arbeitet. Noch läuft sein Widerspruch bei der Krankenkasse, seine Ärzte unterstützen ihn dabei, das Gutachten des MDK anzufechten. Noch habe er Hoffnung auf ein schmerzfreies Leben, sagt Michael.