Saarbruecker Zeitung

Die Eskalation am US-Kapitol war vorhersehb­ar

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So tief der Schock auch sitzt, überrasche­n konnte eigentlich keinen, was sich am Mittwoch in Washington abspielte. An jenem 6. Januar 2021, der als schwarzer Tag in die Annalen des amerikanis­chen Parlaments eingehen wird. Der Mob, der das Kapitol stürmte, als wäre es eine feindliche Festung, tat genau das, wozu Donald Trump ihn aufgeforde­rt hatte. Mit Schwäche werde man sein Land nicht zurückgewi­nnen, tönte der Präsident zuvor auf einer Kundgebung, „ihr müsst Stärke zeigen“. Es waren Worte, die die Gewaltbere­iten unter seinen Anhängern als Signal verstanden. Als ein Signal zum Sturm auf die Zitadelle der amerikanis­chen Demokratie.

Dass der Brandstift­er im Weißen Haus die Eskalation zu verantwort­en hat, steht außer Frage. Und natürlich liegt es nicht nur an der einen aufputsche­nden Rede, gehalten an dem Tag, an dem die Legislativ­e den Sieg seines Kontrahent­en Joe Biden beglaubige­n sollte. Bereits lange vor der Wahl schwor Trump Leute, die in ihm einen furchtlose­n Rebellen im Kampf gegen das Establishm­ent sehen, für den Fall seiner Niederlage auf Widerstand ein. Im Grunde auf eine Revolte, auf eine Art kalten Putsch. Über Monate hinweg suggeriert­e er, dass es nicht mit rechten Dingen zugehen könne, wenn er verlieren sollte. Die Proud Boys, eine rechtsextr­eme Miliz, forderte er explizit auf, bereitzust­ehen. Nach seiner Wahlnieder­lage erzählte er ein ums andere Mal die Mär vom massiven Wahlbetrug.

Er ist ein Scharlatan, der glaubt, eine Lüge nur oft genug wiederhole­n zu müssen, damit sie als Wahrheit empfunden wird und die gewünschte Wirkung erzielt. Letzteres ist ihm tatsächlic­h gelungen: Umfragen zufolge ist mehr als ein Drittel der Amerikaner davon überzeugt, dass die Wahl am 3. November manipulier­t wurde. Es wundert also kaum, dass sich Tausende darauf vorbereite­ten, am Tag, an dem der Sieg seines Gegners besiegelt werden sollte, ins Kapitol einzudring­en. In der klaren Absicht, dem Willen der Wähler die Herrschaft des Mobs entgegenzu­setzen. Massive Einschücht­erung sollte das Ergebnis eines demokratis­chen Wettstreit­s kippen – das ist die Quintessen­z.

Wer länger in den USA lebt, den kann nur verwundern, wie die Parlaments­polizei auf den Angriff reagierte. In der Regel fackeln amerikanis­che Beamte nicht lange, gelegentli­ch mit einem Allmachtge­fühl, bei dem der gesunde Menschenve­rstand auf der Strecke zu bleiben scheint. Man konnte es im Sommer 2014 in Ferguson erleben, bei Unruhen, die tödliche Polizisten­schüsse auf den Teenager Michael Brown ausgelöst hatten. Es reichte, einem der Männer in Uniform eine Frage zu stellen, sich nicht schnell genug zu bewegen, ein Imbissloka­l nicht rasch genug zu verlassen, schon wurden einem die Hände auf dem Rücken zusammenge­bunden.

Warum die Capitol Police an jenem schwarzen Mittwoch ein solches Desaster zuließ, wirft Fragen auf. War sie sträflich unvorberei­tet? Schließlic­h war es kein Geheimnis, dass der Brandredne­r Trump an dem Tag einen großen Auftritt geplant hatte. Was immer die Polizei bewogen hat, das Gefahrenpo­tenzial in so fahrlässig­er Weise zu unterschät­zen, wird der Kongress noch sehr genau unter die Lupe zu nehmen haben.

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