Warum Nawalny nicht aufgeben kann
Alexei Nawalny macht Ernst. An diesem Sonntag will der prominenteste noch lebende russische Oppositionelle in seine Heimat zurückkehren. Den einen nötigt die Entscheidung Respekt ab oder sogar Bewunderung. Andere fragen: Ist er wahnsinnig geworden oder einfach nur lebensmüde? Beide Reaktionen haben ihre Berechtigung. Schließlich ist Nawalny im Sommer nach einem Mordanschlag mit dem Nervengift Nowitschok nur um ein Haar dem Tod entronnen. Verantwortlich für den Angriff war nach dem Stand der internationalen Ermittlungen der russische Inlandsgeheimdienst FSB. Die Indizienlast ist erdrückend. Man kann an dieser Stelle natürlich auf die Unschuldsvermutung verweisen, die allerdings nicht für die politische Bewertung gilt. Anders gesagt: Wer an der Version vom FSB-Anschlag zweifeln will, der möge zweifeln. Belastbare rationale Gründe dafür gibt es nicht.
Nawalny selbst ist sogar davon überzeugt, dass Präsident Wladimir Putin den Mordanschlag persönlich befohlen hat. Auch darauf gibt es deutliche Hinweise. In jedem Fall aber muss er davon ausgehen, dass sich jene, die ihm nach dem Leben trachten, noch immer in Russland befinden und ihn dort in Empfang nehmen werden. Bleibt er auf freiem Fuß, werden ihn vermutlich vom ersten Schritt an FSB-Agenten beschatten, wie das seit Jahren geschehen ist. Vor einem schnellen zweiten Mordanschlag dagegen dürfte ihn die weltweite Beachtung schützen, die sein Fall erfahren hat. Ganz sicher ist aber auch das nicht.
Warum also lässt sich Nawalny auf dieses Himmelfahrtskommando ein? Die Antwort ist einfach: Er hat keine echte Wahl. Würde der 44-Jährige in Deutschland Asyl beantragen oder in einem anderen westlichen Staat Unterschlupf suchen, käme das nicht nur einer Kapitulation vor Putin gleich, sondern auch einer Selbstaufgabe. Schließlich hat sich Nawalny schon vor vielen Jahren dem Kampf gegen Korruption und Willkürherrschaft in Russland verschrieben, wissend, dass der Kampf gegen die Kremlclans rund um Präsident Putin lebensgefährlich ist.
Die lange Liste der ermordeten Regimekritiker war Nawalny ja nur zu gut bekannt. Darauf stehen die Reporterin Anna Politkowskaja (2006 erschossen), der Ex-Agent und Kremlkritiker Alexander Litwinenko (2006 mit Polonium vergiftet), die Menschenrechtlerin Natalja Estemirowa (2009 erschossen), der Oppositionspolitiker Boris Nemzow (2015 erschossen) und viele andere mehr. Nawalny selbst hat für seinen Kampf im Gefängnis gesessen, Prügel eingesteckt, einen Säureanschlag überlebt und auf Geld und privates Glück verzichtet.
Nein, so einer kann gar nicht aufhören, erst recht nicht nach einem Mordanschlag. Andererseits lässt sich fragen: Welche Mission kann Nawalny in Putins Russland heute noch haben? Sein Handlungsspielraum wird so eng bleiben, wie der Kreml ihn definiert. Dennoch. Es reicht ja vorerst, wenn Nawalny ein Stachel im Fleisch der Staatsmacht bleibt. Zuletzt hat sich im benachbarten Belarus gezeigt, wie schnell sich das Blatt selbst in Ländern wenden kann, in denen eine Diktatur zementiert zu sein scheint.