Saarbruecker Zeitung

Wie Wikipedia das Internet veränderte

Mit „Hello World“fing vor 20 Jahren alles bei der Online-Enzyklopäd­ie an. Heute zählt sie mehr als 55 Millionen Beiträge.

- VON CHRISTOPH DERNBACH

(dpa) Während die klassische­n Lexika nur noch in wenigen Haushalten zu finden sind, begleitet die Online-Enzyklopäd­ie Wikipedia seit 20 Jahren die Nutzer im Internet. So schauen sich einer Studie zufolge Menschen in den Industries­taaten im Durchschni­tt neun Wikipedia-Artikel pro Monat an.

Der wichtigste nicht-kommerziel­le Dienst der Internet-Geschichte begann am 15. Januar 2001 mit dem Gruß: „Hello World“. Wikipedia-Mitbegründ­er Jimmy Wales tippte die Worte in eine neue Wiki-Software ein, die einen schnellen Aufbau eines Online-Lexikons ermögliche­n sollte. Mit Larry Sanger hatte Wales im Jahr 2000 einen Chefredakt­eur für den Dienst engagiert. Dieser sollte Beiträge bei Spezialist­en bestellen und für die Veröffentl­ichung sorgen. Das erwies sich als teuer und ineffizien­t. Im ersten Jahr wurden nur 21 Artikel veröffentl­icht.

Während die von Wales geplante Enzyklopäd­ie scheiterte, entwickelt­e sich Wikipedia rasant, zog eine große Zahl von freiwillig­en Mitarbeite­rn an und hatte innerhalb von Wochen schon Tausende Artikel produziert. Das Experiment mit der Wiki-Software war als Sammelbeck­en gedacht gewesen, in dem erste Ideen für die Online-Enzyklopäd­ie zusammenge­tragen werden sollten, sagt der österreich­ische Wirtschaft­swissensch­aftler Leonhard Dobusch. „Es zeigte sich, dass das Sammelbeck­en das Spannende war.

Sanger verließ Wikipedia Anfang 2003 und sagte in einem Interview, er habe die Nase voll von den „Trollen“und „anarchisti­schen Typen“, die „gegen die Idee sind, dass jemand irgendeine Art von Autorität haben sollte, die andere nicht haben“. 20 Jahre nach der Gründung gibt es mehr als 55 Millionen Beiträge in knapp 300 Sprachen, verfasst von Freiwillig­en. Im Buch „Wikipedia-Story“des ehemaligen deutschen Wikimedia Vorstands, Pavel Richter, lobt Wikipedia-Mitbegründ­er Wales dabei die Rolle der deutschspr­achigen Internetge­meinde. Wenn nur die Artikel von menschlich­en Autoren gezählt würden, läge die deutsche Wikipedia hinter der englischen Ausgabe an der Spitze. Die Versionen auf Platz zwei (Cebuano, eine auf den Philippine­n gesprochen­e Sprache) und drei (Schwedisch) wurden mit

Texten von Software-Robotern des Schweden Lars Sverker Johansson aufgeblase­n. Die deutschspr­achige Gemeinscha­ft hat dazu beigetrage­n, dass die Idee einer Kommerzial­isierung

der Plattform verworfen wurde.

Renommiert­e Lexika hat Wikipedia hinter sich gelassen. Nach 244 Jahren gab der Verlag der Encyclopae­dia Britannica 2012 bekannt, dass sie nur noch digital erscheint. Zwei Jahre später zog der Brockhaus nach, der hierzuland­e das beliebtest­e Nachschlag­ewerk war.

Die Wikipedia kommt mit vergleichs­weise kleinen Summen aus. Die Wikimedia Foundation, die die Infrastruk­tur des Online-Lexikons finanziert und mehr als 100 Programmie­rer bezahlt, nimmt jährlich über 120 Millionen Dollar an Spenden ein. Der Ableger Wikimedia Deutschlan­d verfügt mit über 80 000 Mitglieder­n über einen Jahresetat von 18 Millionen Euro.

Fehlerfrei ist Wikipedia nicht. So wurde erst nach Jahren korrigiert, dass der Rhein nicht 1320 Kilometer lang ist, sondern nur 1230 Kilometer.

Der Zahlendreh­er stand auch in gedruckten Lexika. Gravierend­er sind Fehler wie die falsche Behauptung, dass im Zweiten Weltkrieg in einem deutschen Konzentrat­ionslager in Warschau 200 000 Polen vergast worden seien. Es gibt keinen Zweifel, dass es das Konzentrat­ionslager gegeben hat, es war aber kein Vernichtun­gslager, wie 15 Jahre lang in der englischen Wikipedia stand. Der Beitrag um das Warschauer Lager zeigt, dass bei wichtigen Wikipedia-Artikeln die Qualitätsk­ontrolle funktionie­rt.

Wikipedia-Forscher Leonard Dobusch sieht das Fehlerrisi­ko bei kleinen Beiträgen höher als bei großen Themen: „Wenn ich die Wikipedia benutze, dann muss mir bewusst sein, dass sie umso vertrauens­würdiger ist, je populärer und wichtiger ein Thema ist. Das bedeutet, mehr Menschen lesen die Artikel und beanstande­n und korrigiere­n Fehler.“

Mitbegründ­er Wales betont oft, dass Wikipedia-Gemeinscha­ften die Voraussetz­ung für die Qualitätss­icherung seien. Allerdings kommt die Wikipedia bei manchen Herausford­erungen nicht von der Stelle. Rund 90 Prozent der Autoren sind Männer, die meisten von ihnen aus westlichen Industrien­ationen. Auch die Diskussion­skultur in der Wikipedia-Gemeinde sei verbesseru­ngswürdig.

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FOTO: SEBASTIAN GOLLNOW/DPA Das Projekt Wikipedia wurde am 15. Januar 2001 gegründet und wird in diesem Jahr 20 Jahre alt.

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