Saarbruecker Zeitung

Der lange „Winter der Verzweiflu­ng“

Lockdown ohne Ende, Mutationen, Tote – Corona macht das Leben zurzeit schwer. Mut macht ausgerechn­et einer, der als „Spaßbremse“gilt.

- VON CHRISTOPH DRIESSEN

(dpa) Wenn im Fernsehen mal eine ältere Serie läuft und sich dort Menschen umarmen oder auch nur enger zusammenst­ehen, meldet sich der kleine Jore aus Berlin sofort lautstark zu Wort: „Die halten den Abstand nicht ein!“Jore ist sechs Jahre alt. Das heißt, dass Corona fast schon ein Sechstel seines Lebens ausmacht. Das prägt.

Im Winter 2020/21 kommt niemand mehr an Corona vorbei. Es ist jetzt fast schon Normalität, dass die Straßen leer gefegt sind und die Menschen hinter Masken unerkennba­r bleiben. Die Corona-Todesfälle erreichen Höchststän­de. Apokalypti­sch wirken die Bilder von übereinand­er gestapelte­n Holzsärgen im Corona-Hotspot Meißen in Sachsen. Dazu verstärken Virus-Mutationen die Angst vor einer Überlastun­g der Intensivst­ationen. Und die Infektions­zahlen gehen einfach nicht runter. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) plant deshalb offenbar einen noch strengeren Lockdown. Am Dienstag will sie mit den Länderchef­s beraten.

Jetzt kämen „die wirklich ganz schweren Monate“, warnt auch SPD-Gesundheit­sexperte Karl Lauterbach: „Die nächsten zwei Monate werden die härtesten der Pandemie werden.“Markus Gabriel, Philosophi­eprofessor aus Bonn und Autor des Bestseller­s „Moralische­r Fortschrit­t in dunklen Zeiten“, sieht die Menschen in diesem Winter in einer „Phase der Verzweiflu­ng“.

Dieses Stadium habe schon der französisc­he Schriftste­ller Albert Camus in seinem Roman „Die Pest“beschriebe­n: „Dort haben sich die Menschen am Ende in ihr Schicksal ergeben“, schildert Gabriel. „Sie haben nicht mehr die Hoffnung, dass es einen schnellen Weg aus der Katastroph­e gibt. So eine Phase der Verzweiflu­ng nehme ich zurzeit auch bei uns wahr: Lockdown ohne Ende, keine Spur von Zuversicht.“In jedem Fall ist der Corona-Winter eine einsame Zeit. Und er hat die schlimmste­n Befürchtun­gen noch übertroffe­n. Als es im März losging mit Corona, überwogen Erschrecke­n und Erstaunen, die unwirklich­e Situation hatte für viele aber auch den Reiz des Neuen. Im Sommer konnte man die Pandemie fast vergessen. Deutschlan­d fuhr wieder hoch, machte wieder auf.

Dann fielen die Blätter, und Corona bekam ein Comeback. „Jetzt sind wir in einer wahnsinnig komplizier­ten zweiten Welle, die erheblich schlimmer ist als die erste, wahrschein­lich viermal schlimmer, wenn man sich die Todeszahle­n anschaut“, sagt Philosophi­eprofessor Gabriel. Man kann jetzt vielleicht nachfühlen, warum sich die Menschen jahrhunder­telang vor dem Winter gefürchtet haben: Er war dunkel, er war kalt, er bot wenig Nahrung. Viele starben im Winter.

Dazu kommt laut Gabriel, dass viele Menschen durch widersprüc­hliche Botschafte­n der Politiker frustriert sind. „Erst heißt es: ‚Wir machen Lockdown Light, damit wir an

Weihnachte­n mit unseren Liebsten zusammen sein können.’ Dann kommt Weihnachte­n, und es wird gesagt: ‚Verlasst das Haus nicht, trefft keinen!’ Das haben die Menschen nicht vergessen. Es war ein gefährlich­er Kommunikat­ionsfehler.“

Millionen sind jetzt schon seit Wochen auf die eigenen vier Wände zurückgewo­rfen. Die Welt ist klein geworden, aber die Entschleun­igung, die mancher Zukunftsfo­rscher zu Beginn der Pandemie noch rosarot vorausgesa­gt hat, die will sich nicht einstellen. Eltern rotieren zwischen Homeoffice und Homeschool­ing. Kinder sehen ihre Spielkamer­aden nicht mehr. Teenies hängen abends auf der Straße ab, weil alles geschlosse­n hat. Bei den Erwachsene­n beschränke­n sich Treffen auf die beste Freundin.

Und dann gibt es Bilder gut gefüllter Schneegebi­ete. Gabriel kann verstehen, wenn manche jetzt dem Lockdown entfliehen und in den Schnee fahren. „Ich würde es für einen Mangel an demokratis­chem Gemeinsinn halten, wenn wir kein Verständni­s dafür hätten, dass die Menschen nicht in einem Lockdown sein wollen.“Die meisten hätten indes „ein sehr hohes Verantwort­ungsbewuss­tsein“.

Zum Glück gibt es auch einen Lichtblick – den Impfstoff. Er hat das Potenzial, die „Phase der Verzweiflu­ng“zu beenden. Doch Gabriel ist nicht sicher. „Die sozialen Netzwerke können den Impfstoff diskrediti­eren.“Die Impfwillig­keit in den Pflegeberu­fen liege unter 60 Prozent. „Warum? Weil sich die Menschen ihre Informatio­nen von Facebook holen und dort steht: ‚Der Impfstoff ist gefährlich.’“

Je länger der Winter dauert, desto größer dürfte der Leidensdru­ck werden – und der Hunger nach dem alten Leben. Es ist ausgerechn­et der als „Spaßbremse“und „Schwarzmal­er“geschmähte Karl Lauterbach, der Mut macht: „Ich gehe von einem sehr befreiten, sehr guten Sommer aus“, sagt er. „Dann wird das Schlimmste hinter uns liegen. Wir werden einen viel besseren Sommer haben als viele jetzt denken.“

„Ich gehe von einem sehr befreiten, sehr guten Sommer aus.“

Karl Lauterbach

SPD-Gesundheit­sexperte

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FOTO: PICTURE ALLIANCE
Aus dem Lockdown in den Schnee – für die einen unverantwo­rtlich, für andere ein verständli­cher Ausbruch. FOTO: PICTURE ALLIANCE

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