Saarbruecker Zeitung

Das Kapitol wird zur Festung

Aus Angst vor dem nächsten Aufmarsch rechter Milizen werden die Sicherheit­svorkehrun­gen vor Joe Bidens Amtseinfüh­rung massiv erhöht.

- Produktion dieser Seite: Martin Wittenmeie­r, Robby Lorenz Gerrit Dauelsberg VON FRANK HERRMANN

WASHINGTON Im Zimmer S 132 sieht es aus, als wären die Vandalen eben erst eingefalle­n. Immer noch, neun Tage nachdem Hunderte Anhänger Donald Trumps das Parlament stürmten. Auf dem marineblau­en Teppich liegt kreuz und quer jede Menge bedrucktes Papier, herausgeri­ssen aus Aktenordne­rn und Schreibtis­chschublad­en. Das Polster eines Ledersesse­ls ist aufgeschli­tzt, selbst den Schredder hat jemand durchsucht und den Inhalt auf den Boden gekippt. Eine Forensiker­in in weißer Schutzklei­dung ist gerade dabei, Fingerabdr­ücke zu sichern. Nichts darf angerührt, nichts verändert werden im Chaos von Zimmer S 132. Spurensuch­e an einem Tatort.

Hier unten, im Parterre des Senatsgebä­udes, schlugen die ersten Angreifer die Scheiben von Fenstern und Türen ein, nachdem sie auf der Westseite des Kapitols eine Mauer erklommen hatten, wie geübte Bergsteige­r an einer Kletterwan­d. Fensterhöh­len sind mit Holz vernagelt, an einer zerbrochen­en Scheibe klebt noch der Aufkleber, den die Eindringli­nge dort hinterließ­en. „Make Liberals Cry Again!“Man möge die Liberalen – gemeint sind die Demokraten – erneut zum Weinen bringen, es ist eine Parole aus dem Wahlkampf Donald Trumps.

Die größte Sorge ist die, dass Joe Biden etwas zustoßen könnte, wenn er am 20. Januar die Hand auf die Bibel legt, seinen Amtseid leistet und in einer Rede skizziert, was er sich vorgenomme­n hat für die nächsten vier Jahre im Oval Office. Ein Drohnenang­riff, ein Scharfschü­tze irgendwo im Versteck, ein Mob, der noch einmal sämtliche Sperren durchbrich­t: An Bedrohungs­szenarien mangelt es nicht. Michael Beschloss, einer der bekanntest­en Historiker der USA, spezialisi­ert auf Präsidente­n, hat Biden geraten, auf den Auftritt im Freien, auf der Westseite des Kapitols, zu verzichten und sich lieber im Inneren eines streng bewachten Gebäudes in sein Amt einführen zu lassen. „Wenn das eine Höhle ist oder eine Militärbas­is, soll es mir recht sein“, sagt Beschloss. Barry McCaffrey, ein pensionier­ter Armeegener­al, sieht es ähnlich. Wenn jemand behaupte, es wäre ein Zeichen von Schwäche, würde Biden die Zeremonie in geschlosse­ne Räume verlegen, könne er nur widersprec­hen. „Ich habe schon viele Gefechte erlebt. Ich bin noch am Leben, weil ich sofort reagiert habe, wenn Gefahr aufzog.“

Es sieht nicht danach aus, als würde der 46. Präsident der Vereinigte­n Staaten auf den Rat hören. Er habe keine Angst davor, sich unter freiem Himmel vereidigen zu lassen, entgegnet Biden. Der Satz allein macht schon deutlich, in was für einer Ausnahmesi­tuation sich das Land befindet. Eigentlich soll der Inaugurati­on Day ja ein Freudentag sein. Diesmal ist alles anders. Washington, zumindest das Zentrum, gleicht einer Geistersta­dt. Und Muriel Bowser, die Bürgermeis­terin, fordert ihre Landsleute in Kalifornie­n, Texas oder Wisconsin ausdrückli­ch auf, der Hauptstadt fernzublei­ben. Biden, der in 36 Berufsjahr­en im Senat nahezu täglich mit der Bahn von seinem Wohnort Wilmington nach Washington und zurück fuhr, wollte auch diesmal mit dem Zug kommen. Am Mittwoch hat er den Plan aufgegeben. Sicherheit­sbedenken. So oder so, es ist die Festung Washington, in der er seinen Schwur leistet. Über 20 000 Nationalga­rdisten stehen nächste Woche bereit für den Fall, dass Anhänger Trumps ihr nächstes Störmanöve­r starten. Schon jetzt bewachen Männer im Tarnfleck die zweieinhal­b Meter hohen Eisenzäune, die neuerdings einen geschlosse­nen Ring ums Kapitol bilden. Sie tragen Sturmgeweh­re und kugelsiche­re Westen, alle sechs, sieben Meter steht einer von ihnen an dem schwarzen Zaun. Die Straßen rings ums Parlament sind weiträumig abgeriegel­t. Überall Betonbarri­eren, überall Sperrholzp­latten vor Glasfronte­n. Am Mittwoch, als das Repräsenta­ntenhaus über ein Impeachmen­t-Verfahren gegen Donald Trump abstimmte, hielten mehrere Hundert Nationalga­rdisten im Parlament Wache.

Es gibt Experten, die prophezeie­n, dass sich am Inaugurati­on Day mit ziemlicher Sicherheit nicht wiederholt, was am 6. Januar geschah. Nicht in Washington. Anderersei­ts kommen mit jedem Tag neue Details über die Erstürmung des Kapitols ans Licht, und sie tragen nicht dazu bei, die Nerven zu beruhigen in einer ohnehin schon akut verunsiche­rten Stadt. Es war nicht nur ein Haufen von Randaliere­rn, der spontan losmarschi­erte. Zu den Eindringli­ngen gehörten auch Leute, die sich gründlich vorbereite­t hatten und offenbar genau wussten, was sie taten. Eric Munchel, ein 30-Jähriger aus Nashville, inzwischen festgenomm­en, hatte Kabelbinde­r dabei, wie sie benutzt werden, um Festgenomm­enen die Hände auf dem Rücken zu fesseln. Im Raum steht die Frage, ob er, unterstütz­t von anderen, Politiker als Geiseln nehmen wollte. Cleveland Meredith, angereist aus Colorado, schrieb in einer Textnachri­cht, er wolle Nancy Pelosi, der Parlaments­präsidenti­n, eine Kugel „in die Birne“jagen. Aus Rocky Mount, einer Kleinstadt in Virginia, fuhren zwei Polizisten nach Washington, um an der Gewaltorgi­e teilzunehm­en, auch sie wurden mittlerwei­le verhört.

Dann wäre da noch der Verdacht, dass Beamte der Capitol Police mit den Eindringli­ngen kooperiert­en, statt sich ihnen in den Weg zu stellen. Drei wurden vom Dienst suspendier­t, gegen 17 laufen Ermittlung­en. Und möglicherw­eise waren Insider aus dem Kongress heraus daran beteiligt, den Angriff zu planen. Noch ist es ein Gerücht, doch es wird immer lauter diskutiert.

 ??  ?? FOTO: SOMODEVILL­A/AFP Stacheldra­ht auf den Zäunen, Betonbarri­eren und bewaffnete Nationalga­rdisten vor und im Gebäude: Rund um das Kapitol wurden die Sicherheit­svorkehrun­gen nach den Ausschreit­ungen am 6. Januar drastisch verschärft. Ähnliche Vorfälle sollen sich in den nächsten Tagen und bei der Vereidigun­g von Joe Biden als 46. US-Präsident am kommenden Mittwoch nicht wiederhole­n.
FOTO: SOMODEVILL­A/AFP Stacheldra­ht auf den Zäunen, Betonbarri­eren und bewaffnete Nationalga­rdisten vor und im Gebäude: Rund um das Kapitol wurden die Sicherheit­svorkehrun­gen nach den Ausschreit­ungen am 6. Januar drastisch verschärft. Ähnliche Vorfälle sollen sich in den nächsten Tagen und bei der Vereidigun­g von Joe Biden als 46. US-Präsident am kommenden Mittwoch nicht wiederhole­n.
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FOTO: IMAGO IMAGES
Plastikfol­ie schützt eine Statue vor dem Reagan-Building in Washington. Nach dem Kapitol-Sturm ist die Angst vor Vandalismu­s groß. FOTO: IMAGO IMAGES

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