„Lockdown schädigt Kinder mehr als Corona“
Der Chefarzt der Saarbrücker Kinderklinik sieht im Präsenz-Unterricht nur wenige Gefahren. Vielmehr gefährde soziale Isolation junge Menschen.
Im Saarland streiten sich die Gesundheitsministerin Christine Streichert-Clivot (SPD) und Schülervertreter um die seit Montag geltende Präsenz-Pflicht für die Abschlussklassen. Die Schüler sehen ihre Gesundheit auf dem Höhepunkt der Corona-Pandemie gefährdet, die Ministerin betont den Wert der Bildung. Im Gespräch mit der SZ erläutert Professor Jens Möller, Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin am Klinikum Saarbrücken, wie es um die Gesundheitslage von Kindern und Jugendlichen im Saarland in Pandemie-Zeiten steht.
Schülerinnen und Schüler der Abschlussklassen im Saarland, die seit Montag wieder Präsenz-Pflicht haben, kritisieren den Präsenz-Unterricht mit dem Hinweis auf die Ansteckungsgefahren. Wie hoch schätzen Sie die Ansteckungsgefahr in Klassen mit 30 oder mehr Schülerinnen und Schülern ein?
MÖLLER Ich sehe da zwei Aspekte: Die Ansteckungsgefahr im Sinne von „krank werden“ist sehr gering, es gibt nur eine gering einstellige Zahl von kranken Menschen unter 18 Jahren, die im Saarland in Krankenhäuser mussten, darunter keine Intensivpatienten. Die mögliche Ansteckungsfähigkeit ist auch eher gering. Wir sehen bei Tests von über 2000 Kindern ganz vereinzelt positive Gesunde, aber sehr viel mehr positive Begleitpersonen. Das heißt, eher stecken Erwachsene die Kinder an. Ich weiß, dass einige regionale Studien etwa in Österreich, das anders sehen. Wichtig ist auch die Quantifizierung der PCR-Reaktion, die bei den Kindern auf eine sehr geringe Infektiosität hindeutet. Zusammenfassend heißt das: Die Gruppe der Schülerinnen und Schüler ist sicher die mit dem allergeringsten Risiko.
Die Schülerinnen und Schüler äußerten nicht nur die Sorge um ihre eigene Gesundheit beim Präsenz-Unterricht. Sie befürchten auch, als Infizierte mit unerkannter Infektion das Virus in ihre Familien zu tragen und dort Eltern, Geschwister oder Großeltern anzustecken.Wie schätzen Sie diese Gefahr ein?
MÖLLER Wie gesagt ist quantitativ wohl eher davon auszugehen, dass sich positive Kinder bei Erwachsenen angesteckt haben. Ansonsten ist das natürlich eine hochphilosophisch ethische Frage. Als Vertreter von Kinderinteressen (bin auch im Landesverband des Kinderschutzbundes aktiv) meine ich, dass man epidemiologisch nicht die junge Generation um Ihre Zukunftschancen bringen kann, nur um das „Infektionsgeschehen“für Ältere – ja auch nur minimal – zu reduzieren.
Es gibt offenbar noch keine eindeutige Forschungsmeinung, ob Kinder und Jugendliche die Pandemie in größerem Maße antreiben, wenn sie ihre Bildungseinrichtungen besuchen. Muss die Landesregierung nicht alle Schüler und Kita-Kinder regelmäßig zwei Mal pro Woche testen, um eine belastbare Datenbasis zu bekommen?
MÖLLERTests sind nur kurzfristig positiv, bei kranken Patienten sind retrospektiv zwar viele am Tag vor Ausbruch positiv, zwei Tage vorher aber nicht mehr. In der Risiko/Nutzen-Abwägung sehe ich so in solchen Tests keinen Sinn. Das sehen viele Infektiologen ähnlich. Tägliche Schnelltests wären eine Möglichkeit, wenn die Tests alle validiert und hochsensitiv wären.
Wie stehen Sie zu Forderungen, auch Kinder unter 16 Jahren gegen Corona zu impfen? Bisher sieht die Bundesregierung nur Impfungen ab dem 16. Lebensjahr vor. Scheitert eine Impfung von jüngeren Kindern und Jugendlichen allein an der Altersbeschränkung der vorhandenen Impfstoffe?
MÖLLER
Eine wirklich Herdenimmunität
bewirkende Impfung muss Kinder und Jugendliche umfassen. Die Zulassung ist natürlich problematisch, da es Kinderstudien geben müsste.
Ihr Kollege Jakob Maske vom Landesverband Berlin des Bundes der Kinderund Jugendärzte Deutschlands hat am Donnerstag im Deutschlandfunk Kultur erklärt, dass seit Beginn der Pandemie die Zahl der dicken Kinder stark zugenommen habe. Auch die Zahl der Depressionen und Ängste habe bei Kindern und Jugendlichen zugenommen. Ebenso die Internet-Spielsucht. Was beobachten Sie
in Ihrer Klinik?
MÖLLER Das ist für mich ganz wesentlich: Wir haben viele Fälle häuslicher Gewalt und verschleppter Erkrankungen. So viele komplizierte Blinddarmentzündungen wie im letzten Jahr habe ich in meinem ganzen beruflichen Leben vorher nicht gesehen! Und sicher auch von psychosomatischen Problemen wie Depressionen, Angststörungen und dazu würde ich auch Übergewicht zählen. Der Mangel an sozialen Kontakten betrifft wahrscheinlich am meisten die ganz jungen und ganz alten Menschen. Diese „Kollateral-Schäden“sind erheblich und müssen im Kontext von direkten
Corona-Folgen gesehen werden. Ich glaube, Kinder und Jugendliche werden durch den Lockdown einschließlich der Schulschließungen mehr geschädigt als Corona ihnen schaden würde.
Wie kommen Kinder und Jugendliche einigermaßen gesund durch die Pandemie-Krise? Hilft der Hinweis der Bundesregierung, sich faul wie die Waschbären auf die Couch zu legen und Medien zu konsumieren?
Ist die Aufforderung der Landesregierung, die Schlittenhänge im Saarland nicht anzufahren, angesichts geschlossener Sportvereine nicht schädlich für die Kinder und Jugendliche, die nach Bewegung auch im Winter dürsten?
MÖLLER Da sprechen Sie etwas an! Aktivität kann eigentlich nur sozial sein, sie sollte auch draußen sein. Wir Kinderärzte kämpfen seit Jahren gegen das Couch-Potato-Denken – jetzt soll das gut sein? Gesundheit, Bildung, Psyche sind so eher gefährdet. Ich kann schwer verstehen, dass wir als Kinderärzte uns für die Möglichkeiten der Kinder einsetzen und diese in ihrer Selbstorganisation als Schülervertreter das wieder konterkarieren.
Das Gespräch in voller Länge gibt es online auf: www.saarbruecker-zeitung.de