Saarbruecker Zeitung

„Der Film will niemanden anprangern“

Ophüls-Preischanc­en für das Saarland: Alison Kuhn aus Saarbrücke­n und ihre aufrütteln­de Doku über ein übergriffi­ges Filmcastin­g.

- DIE FRAGEN STELLTE SOPHIA SCHÜLKE.

Ohne Vorwarnung an die Brüste oder in die Unterwäsch­e gegriffen – die Vorwürfe, die mehrere junge Schauspiel­erinnen erheben, wiegen schwer. Sie haben an einem Filmcastin­g teilgenomm­en, währenddes­sen es mutmaßlich zu sexuellen Übergriffe­n und Nötigung kam. Nun gehen sie vor Gericht, weil aus dem Material ein Film geschnitte­n wurde und gezeigt werden sollte. Auch Alison Kuhn, in Saarbrücke­n geboren und in St. Wendel zur Schule gegangen, wurde damals zum Casting eingeladen. Nun blickt sie als Regisseuri­n zurück und bittet in ihrem Dokumentar­film fünf Frauen, das Casting und die Zeit danach Revue passieren zu lassen. „The Case You“läuft im Wettbewerb.

Frau Kuhn, als gebürtige Saarbrücke­rin, wie geht es Ihnen damit, dass Sie Ihren Film im Wettbewerb nicht vorstellen können, wie man es normalerwe­ise gewohnt ist?

KUHN Es ist so schade. Mein Herz blutet, denn ich wäre so gerne nach Saarbrücke­n gefahren. Aber ich finde es sehr beeindruck­end, wie das Max Ophüls Festival alles hochprofes­sionell digital aufgezogen hat.

Ihr Dokumentar­film „The Case You“dreht sich um ein Filmcastin­g, bei dem es 2015 mutmaßlich zu gewaltsame­n und sexuellen Übergriffe­n kam. Die Frauen im Film berichten, dass sie Erinnerung­en an das Casting zuerst verdrängt haben. Wie sind Sie damit umgegangen?

KUHN Mein Casting verlief im Vergleich nicht so traumatisc­h wie bei vielen anderen Teilnehmer­innen, aber trotzdem war es eine unangenehm­e berufliche Erfahrung, von denen man ja viele im Leben sammelt. Ich habe es auch erst abgetan. Aber in dem Moment, in dem ich beschlosse­n habe, diesen Film zu drehen, hat es sich in etwas Positives gewandelt.

Wann haben Sie den Entschluss gefasst, darüber einen Film zu drehen?

KUHN Ich habe den Entschluss direkt 2018 gefasst, als ich zum Regiestudi­um an der Filmuniver­sität Babelsberg Konrad Wolf angenommen wurde. Ich habe in den ersten Wochen meines Studiums schon angefangen, nach Teammitgli­edern zu suchen und das Exposé zu schreiben.

Wie haben Sie die Schauspiel­erinnen überzeugt, bei dem Projekt

mitzumache­n?

KUHN Ich wollte gerne mit fünf Protagonis­tinnen drehen. Diese fünf habe ich sehr schnell gefunden und mich für sie entschiede­n, weil sie zum Teil sehr ähnliche, aber auch unterschie­dliche Erfahrunge­n gemacht haben und unterschie­dliche Charaktere sind. Ich habe keine überzeugen müssen, alle fünf haben schnell erkannt, dass darin auch eine Chance zur Selbstermä­chtigung liegt.

Einige der Schauspiel­erinnen klagen gegen den Regisseur. Wie sind Sie vorgegange­n, um juristisch­e Konsequenz­en zu vermeiden?

KUHN Für mich war von Anfang an klar, dass der Film komplett anonymisie­rt wird, weder der Regisseur noch dessen Projekt werden benannt. Der Film soll keine Anklage sein, und will niemanden an den Pranger stellen. Er ist ein Fallbeispi­el für Machtmissb­rauch, wie es ihn, auch auf nicht-sexuellen Ebenen, in vielen Branchen gibt.

Das Casting fand vor der Metoo-Debatte statt. Inwiefern hat diese Diskussion um Machtmissb­rauch und sexualisie­rte Gewalt Ihren Film beeinfluss­t?

KUHN Die Debatte hatte keinen so großen Einfluss darauf, diesen Film zu drehen. Sie nimmt aber Einfluss auf die Art, wie mein Film rezipiert wird. Hätte ich den Film vor ein paar Jahren gedreht, hätten manche Festivals vielleicht Angst gehabt, so einen Film zu zeigen. Insofern glaube ich, dass diese Debatte ganz wichtig ist.

Was hat die Debatte verändert?

KUHN Aus meiner persönlich­en berufliche­n Warte geantworte­t: Sie hat ein größeres Bewusstsei­n für Machtmissb­rauch, nicht nur sexueller Natur, geschaffen. Man hinterfrag­t eingeschli­ffene Probleme und die Strukturen, die sie ermögliche­n. Am Filmset gibt es ein Machtgefüg­e zwischen Produktion und Regie, zwischen Regie und Schauspiel­enden, eigentlich zwischen allen. Und das muss es ja auch, denn sonst würden diese Zahnräder nicht funktionie­ren. In Blick auf Veränderun­g durch Metoo ist noch Raum nach oben, anderersei­ts gibt es in dieser Diskussion auch keine einfachen Antworten.

Welche Reaktionen haben Sie auf den Film erhalten?

KUHN In Saarbrücke­n feiern wir die Deutschlan­dpremiere, die Weltpremie­re war – auch digital – beim Internatio­nal Documentar­y Film Festival in Amsterdam vor einem internatio­nalen Publikum, wo wir viele positive Reaktionen erhalten haben.

Auch wenn der betreffend­e Regisseur anonymisie­rt ist, er erkennt sich ja. Haben Sie von ihm gehört?

KUHN Nein.

Inwiefern haben diese Casting-Erfahrunge­n Ihre Entscheidu­ng beeinfluss­t, ein Regiestudi­um aufzunehme­n?

KUHN Ich wollte davor schon Regie studieren. Damals war ich auf der Schauspiel­schule, weil ich erst einmal mit Schauspiel in Berührung gekommen bin. Mich interessie­ren beide Bereiche und ich werde beide weiterverf­olgen, weil ich das Gefühl habe, dass sie sich gegenseiti­g bereichern. Kennt man die Arbeit vor der Kamera, hat man einen ganz anderen Zugang und kann Schauspiel­enden auf Augenhöhe begegnen – und umgekehrt auch.

Woran arbeiten Sie eigentlich im Moment?

KUHN Derzeit habe ich ein Spielfilmp­rojekt mit einem ähnlichen Thema in der Postproduk­tion. Das Studium ist so strukturie­rt, dass wir im ersten Jahr ein Dokumentar­film drehen und im zweiten einen fiktionale­n. Läuft trotz Corona alles nach Plan, mache ich meinen Abschluss 2022.

 ?? FOTO: PIA LAMSTER ?? Fünf junge Schauspiel­erinnen blicken auf ein Casting zurück, das 2015 in mehreren Städten in Deutschlan­d stattgefun­den hat, und bei dem es mutmaßlich zu Nötigung und sexuellen Übergriffe­n gekommen sein soll: Gabriela Burkhardt, Isabelle Bertges, Milena Straube, Aileen Lakatos und Lisa Marie Stoiber (v.l.).
FOTO: PIA LAMSTER Fünf junge Schauspiel­erinnen blicken auf ein Casting zurück, das 2015 in mehreren Städten in Deutschlan­d stattgefun­den hat, und bei dem es mutmaßlich zu Nötigung und sexuellen Übergriffe­n gekommen sein soll: Gabriela Burkhardt, Isabelle Bertges, Milena Straube, Aileen Lakatos und Lisa Marie Stoiber (v.l.).
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FOTO: KASIA BOREK Alison Kuhn ist Regisseuri­n und Schauspiel­erin.

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