Saarbruecker Zeitung

Die Nazis hätten sie fast zwangsster­ilisiert

Wie ist das, von einem geliebten Menschen Abschied nehmen zu müssen? Die SZ spricht mit Angehörige­n und Freunden und stellt in einer Serie Lebenswege Verstorben­er vor. Heute: Anna Siegwart.

- VON ALEXANDRA BROEREN

GROSSROSSE­LN Im Jahr 2021 erhalten gehörlose Schüler an gut ausgestatt­eten Landesschu­len individuel­len Förderunte­rricht. Als Anna Siegwart jedoch im November 1921 in Großrossel­n zur Welt kam, sah diese für hörbehinde­rte Kinder nicht rosig aus.

Vielfach erhielten diese „Taubstumme­n“, wie man sie damals nannte, nämlich wenig Förderung. Im Gegenteil, häufig schämten sich die Familien für sie. Anders aber Michel Oberhauser aus Großrossel­n, der Vater der kleinen Anna. Anna hatte mit nicht ganz zwei Jahren als Folge einer zu spät erkannten Innenohren­tzündung ihr Gehör verloren. Obwohl einfacher Bergmann, hat sich Michel Oberhauser energisch für seine Tochter engagiert: Als Anna sieben Jahre alt war, wurde sie in der „Provinzial-Taubstumme­nanstalt Trier“eingeschul­t.

Die Trierer „Taubstumme­nanstalt“war damals im Helenenhau­s untergebra­cht und wurde von Ordensschw­estern geführt. „So war es eine ausgesproc­hen strenge Erziehung, die meine Mutter damals bekommen hat“, berichtet Anna Siegwarts Tochter, Irene Bierbrauer. Die kleine Anna habe zusammen mit den anderen Mädchen in einem großen Schlafsaal geschlafen und sei lediglich in den Ferien zuhause gewesen. Großen Wert habe man in der Schule darauf gelegt, dass die Schüler

von den Lippen ablesen. Gebärdensp­rache haben die Kinder nur auf dem Schulhof benutzt, sagt Irene Bierbrauer. „Aber es ist leider nun einmal unmöglich, alles von den Lippen abzulesen“, sagt sie. Dennoch hat es die Schule schon damals geschafft, ihren Schülern die Lautsprach­e beizubring­en. Dies sei wohl dem damaligen Schulleite­r zu verdanken gewesen, glaubt Irene Bierbrauer. Denn der habe nach den damals modernsten Methoden unterricht­et.

Problemati­sch wurde die aufziehend­e NS-Zeit für die Schüler der „Anstalt“. Anna berichtete später davon, dass eine jüdische Mitschüler­in von einem auf den anderen Tag verschwund­en war, was ihr schwer zu schaffen machte. Außerdem wurden die Gehörlosen­schulen vom Nationalso­zialismus als „erbselekti­onsverpfli­chtete Sonderschu­len“klassifizi­ert. Zahlreiche Schüler der Schule wurden zu dieser Zeit zwangsster­ilisiert. Die beste Freundin

von Anna Siegwart ist gar an den Folgen einer solchen Zwangsster­ilisation gestorben. Die Zwangsster­ilisation konnte Anna nur dank der Hartnäckig­keit Michel Oberhauser­s umgehen. „Mein Großvater war ein furchtlose­r Mensch. Was er verfolgt hat, hat er mit Verve verfolgt, und so hat er alles darangeset­zt, nachzuweis­en, dass die Gehörlosig­keit von Anna durch eine Krankheit erworben und nicht erblich war“, sagt Gertrud Kirsch aus Lauterbach, Nichte und Patenkind von Anna Siegwart. Seit 2016 erinnern übrigens Stolperste­ine in der Trierer Engelstraß­e an die Opfer der Zwangsster­ilisatione­n der Schule.

Nach acht Schuljahre­n in der „Taubstumme­nanstalt“wurde Anna Siegwart schließlic­h entlassen. In Großrossel­n fand sie eine Lehrstelle zur Schneideri­n. Ihren vertraglic­h vereinbart­en Lohn von fünf Mark monatlich habe sie jedoch nie erhalten, berichtet Irene Bierbrauer. „Ihre Lehrerin hat gesagt, sie mache zu viel Mühe, weil sie nichts hören kann.“Zur Berufsschu­le ging die junge Frau nach Saarbrücke­n. Dort gab es nämlich eine Gehörlosen­klasse, in der eine Lehrerin aus Trier einmal in der Woche unterricht­ete.

Später, nach den Kriegswirr­en und zwei Evakuierun­gen, engagierte sich Anna Siegwart im Gehörlosen­verein. Obwohl der Verein nach dem Krieg verboten war, organisier­te ein Kaplan heimliche Treffen der Gehörlosen im Saarbrücke­r Langwiedst­ift.

Dort lernte die junge Anna Oberhauser den sechs Jahre älteren Walter Siegwart kennen und lieben. 1946 wurde geheiratet – im geliehenen Brautkleid, das einer Cousine gehörte. Damit das junge Paar seine Gäste im Hungerjahr 1946 auch bewirten konnte, hat ein Onkel die nötigen Dinge „besorgt“. Die älteren Großrossel­ner werden sich sicherlich noch gut an den Schmuggelp­fad erinnern, der mitten durch die Rossel führte.

Nach der Hochzeit ist das junge Paar zunächst bei Annas Eltern eingezogen, später zogen sie in einen Anbau direkt neben dem Elternhaus. 1954 kam schließlic­h Tochter Irene zur Welt.

Ihrer Behinderun­g zum Trotz war Anna Siegwart ein überaus geselliger Mensch und hat sich vor allem in Gehörlosen­vereinigun­gen engagiert. Beispielsw­eise im „Gehörlosen Senioren-Treff“, bei „Glückauf Jägersfreu­de“und im Frauenkrei­s „Bleib treu“. Gemeinsam mit ihren Freunden ist sie gerne und viel gereist. Einmal monatlich traf sie sich auch mit alten Schulfreun­den in Trier. „Sie hat ihre Kontakte sorgfältig gepflegt“, sagt Irene Bierbrauer. Auch nachdem Walter Siegwart im Jahr 1982 früh verstorben ist.

Mit Leidenscha­ft hat Anna Siegwart auch gestickt und gehäkelt, je feiner und tüfteliger, desto lieber. Irene Bierbrauer zeigt stolz die Gobelins, Tischdecke­n und Spitzentas­chentücher, die ihre Mutter gefertigt hat. Bis sie über 90 Jahre alt war, hat sie sich selbst versorgt, und hat sogar eingekauft. Im Juli 2015 ist Anna Siegwart dann mit 94 Jahren verstorben.

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FOTO: FOTOGRAF HOCHZEITSB­ILD UNBEKANNT/GUDRUN DE WINTER Links ist das Hochzeitsf­oto von Anna und Walter Siegwart von 1946 zu sehen. Ihr Brautkleid war geliehen. Rechts ist Anna Siegwart 1996 mit ihrer Tochter Irene Bierbrauer im Bild.
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