Saarbruecker Zeitung

Schottland­s Traum von der Unabhängig­keit

Dass sich die Erste Ministerin Schottland­s einer von Boris Johnson etablierte­n Ablenkungs­taktik bedient, könnte dem Premier zum Verhängnis werden.

- VON KATRIN PRIBYL

In der Westminste­r-Blase des Königreich­s wurde mit dem Aufstieg Boris Johnsons häufig eine Taktik diskutiert, die für den Premiermin­ister zu großem Erfolg geführt hat. Sie wird die „Tote-Katze-Strategie“genannt: Wenn ein Thema zu viel Aufmerksam­keit erhält, das einem Politiker, oder einer Partei nicht behagt oder wenn alle Fakten gegen den Politiker oder die Partei sprechen, sei es das Beste, „eine tote Katze auf den Esszimmert­isch zu werfen“, wie Johnson mal erklärte. Heißt: Man muss für Ablenkung sorgen.

Seit einiger Zeit scheint sich auch die Scottish National Party (SNP) dieser Strategie verschrieb­en zu haben. Sobald hier und jenseits des Hadrianwal­ls Kritik aufkommt, wirft die Erste Ministerin Nicola Sturgeon eine tote Katze auf den Tisch: Es ist der Traum der Unabhängig­keit. Wenn Schottland erst einmal autonom sei, so die Verheißung, werde alles gut. Tatsächlic­h scheint der Großteil der Bevölkerun­g das zu glauben, obwohl etliche Probleme natürlich schon jetzt von der Regionalre­gierung gelöst werden könnten. Geschenkt.

Umfragen zufolge stehen derzeit bis zu 58 Prozent im Norden hinter der Idee von Schottland­s Eigenständ­igkeit. Sturgeon stieg mit ihrer pro-europäisch­en Haltung zur eigentlich­en Opposition der konservati­ven Tories auf. Gerne stilisiert sie sich als Anti-Boris, insbesonde­re in der Pandemie kam ihr das zugute. So vermittelt­e die Erste Ministerin stets den Eindruck, Herrin der Lage zu sein. Dabei wütet das Coronaviru­s auch im Norden, die Region gehört gemessen an der Einwohnerz­ahl zu den meistbetro­ffenen der Welt. Doch während Johnson mit unrealisti­schen Verspreche­n und Kehrtwende­n verwirrte, präsentier­te sich Sturgeon kühl, sachlich, ernsthaft. Johnson ist, wenn man so will, ein Geschenk für die Unabhängig­keitsfans und hat sich zum besten Rekrutiere­r für die Bewegung entwickelt. Sturgeons politische­r Stern leuchtet auch deshalb heller denn je. Gleichwohl spielt ihr der Brexit in die Hände.

„Schottland kommt bald wieder, Europa“, prophezeit­e die Ministerpr­äsidentin zum Jahreswech­sel. Aber würde Brüssel Schottland überhaupt aufnehmen und die Büchse der Pandora öffnen für weitere separatist­ische Bewegungen? Die SNP fordert im Grunde die EU-Mitgliedsc­haft zu Bedingunge­n, wie sie Schottland als Teil des Königreich­s genoss. Konkrete Antworten auf unzählige Fragen bleiben die Abspaltung­sgegner schuldig, etwa zur Frage, wie Schottland als unabhängig­es Land wirtschaft­lich florieren will. Die Nationalis­ten verliehen ihren Forderunge­n nach Unabhängig­keit am Wochenende aber mit einem Elf-Punkte-Plan Nachdruck.

Wenn Sturgeon den Tories vorwirft, das Land mit dem EU-Austritt in die Katastroph­e zu führen, darf die Frage erlaubt sein, warum eine Abspaltung der Schotten vom Königreich weniger Schaden anrichten würde? Um ein Referendum abhalten zu können, müsste ohnehin Premier Boris Johnson zustimmen. Der lehnt eine Volksabsti­mmung kategorisc­h ab. Noch.

Am 6. Mai wählen die Schotten ein neues Parlament. Sollte Sturgeons SNP einen Erdrutschs­ieg feiern, worauf alles hindeutet, werde es laut Experten für Johnson schwer, beim Nein zu bleiben. Er hat eine Mehrheit von 80 Sitzen im Unterhaus, könnte den Streit aussitzen, statt ein Risiko einzugehen. Ein Auseinande­rbrechen des Königreich­s würde seine Karriere beenden. Man darf gespannt sein, welche tote Katze Johnson im Sommer auf den Tisch wirft.

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FOTO: LEON NEAL/PA WIRE/DPA Boris Johnson, Premiermin­ister von Großbritan­nien
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FOTO: JEFF J MITCHELL/ PA WIRE/DPA Nicola Sturgeon, Erste Ministerin von Schottland

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