Schottlands Traum von der Unabhängigkeit
Dass sich die Erste Ministerin Schottlands einer von Boris Johnson etablierten Ablenkungstaktik bedient, könnte dem Premier zum Verhängnis werden.
In der Westminster-Blase des Königreichs wurde mit dem Aufstieg Boris Johnsons häufig eine Taktik diskutiert, die für den Premierminister zu großem Erfolg geführt hat. Sie wird die „Tote-Katze-Strategie“genannt: Wenn ein Thema zu viel Aufmerksamkeit erhält, das einem Politiker, oder einer Partei nicht behagt oder wenn alle Fakten gegen den Politiker oder die Partei sprechen, sei es das Beste, „eine tote Katze auf den Esszimmertisch zu werfen“, wie Johnson mal erklärte. Heißt: Man muss für Ablenkung sorgen.
Seit einiger Zeit scheint sich auch die Scottish National Party (SNP) dieser Strategie verschrieben zu haben. Sobald hier und jenseits des Hadrianwalls Kritik aufkommt, wirft die Erste Ministerin Nicola Sturgeon eine tote Katze auf den Tisch: Es ist der Traum der Unabhängigkeit. Wenn Schottland erst einmal autonom sei, so die Verheißung, werde alles gut. Tatsächlich scheint der Großteil der Bevölkerung das zu glauben, obwohl etliche Probleme natürlich schon jetzt von der Regionalregierung gelöst werden könnten. Geschenkt.
Umfragen zufolge stehen derzeit bis zu 58 Prozent im Norden hinter der Idee von Schottlands Eigenständigkeit. Sturgeon stieg mit ihrer pro-europäischen Haltung zur eigentlichen Opposition der konservativen Tories auf. Gerne stilisiert sie sich als Anti-Boris, insbesondere in der Pandemie kam ihr das zugute. So vermittelte die Erste Ministerin stets den Eindruck, Herrin der Lage zu sein. Dabei wütet das Coronavirus auch im Norden, die Region gehört gemessen an der Einwohnerzahl zu den meistbetroffenen der Welt. Doch während Johnson mit unrealistischen Versprechen und Kehrtwenden verwirrte, präsentierte sich Sturgeon kühl, sachlich, ernsthaft. Johnson ist, wenn man so will, ein Geschenk für die Unabhängigkeitsfans und hat sich zum besten Rekrutierer für die Bewegung entwickelt. Sturgeons politischer Stern leuchtet auch deshalb heller denn je. Gleichwohl spielt ihr der Brexit in die Hände.
„Schottland kommt bald wieder, Europa“, prophezeite die Ministerpräsidentin zum Jahreswechsel. Aber würde Brüssel Schottland überhaupt aufnehmen und die Büchse der Pandora öffnen für weitere separatistische Bewegungen? Die SNP fordert im Grunde die EU-Mitgliedschaft zu Bedingungen, wie sie Schottland als Teil des Königreichs genoss. Konkrete Antworten auf unzählige Fragen bleiben die Abspaltungsgegner schuldig, etwa zur Frage, wie Schottland als unabhängiges Land wirtschaftlich florieren will. Die Nationalisten verliehen ihren Forderungen nach Unabhängigkeit am Wochenende aber mit einem Elf-Punkte-Plan Nachdruck.
Wenn Sturgeon den Tories vorwirft, das Land mit dem EU-Austritt in die Katastrophe zu führen, darf die Frage erlaubt sein, warum eine Abspaltung der Schotten vom Königreich weniger Schaden anrichten würde? Um ein Referendum abhalten zu können, müsste ohnehin Premier Boris Johnson zustimmen. Der lehnt eine Volksabstimmung kategorisch ab. Noch.
Am 6. Mai wählen die Schotten ein neues Parlament. Sollte Sturgeons SNP einen Erdrutschsieg feiern, worauf alles hindeutet, werde es laut Experten für Johnson schwer, beim Nein zu bleiben. Er hat eine Mehrheit von 80 Sitzen im Unterhaus, könnte den Streit aussitzen, statt ein Risiko einzugehen. Ein Auseinanderbrechen des Königreichs würde seine Karriere beenden. Man darf gespannt sein, welche tote Katze Johnson im Sommer auf den Tisch wirft.