Als das Bauchgefühl über den Verstand siegte
Gerade erst ist die digitale Ausgabe des OphülsFestivals vorüber, die Kinos sind weiterhin geschlossen. Aber es gibt doch was zu feiern: Vor 15 Jahren wurde die Camera zwo eröffnet.
„Wann sperrst’n Du hier wieder auf?“Hinterm Kassen-Spuckschutz, vor sich eine Flasche mit Desinfektionsmittel, guckt Camera-Zwo-Chef Michael Krane skeptisch zu seiner Kinoleiterin Anna Reitze. Die lächelt, einen halbleeren Eis-Kühlschrank im Rücken, tapfer zurück: „Die Prognosen gehen Richtung Sommer.“Krane seufzt: „Das nützt uns ja gar nix!“Noch ein Seufzer. „Meine Horrorvision ist, dass wir an Ostern öffnen dürfen und es sind 25 Grad. Das war 2019 der Fall. Da hast Du keine Chance!“Stell Dir vor, es ist Kino, und keiner geht hin.
„Ich sehe mich im Sommer schon jeden Abend zum Filmhaus dackeln und Open-Air-Kino machen“, brummt Krane. Das funktioniert wenigstens bei schönem Wetter. Wenn’s nicht so verflucht umständlich wäre – im Innenhof kann man ja kein Equipment über Nacht unbewacht stehen lassen.
Ja, der aktuelle Lockdown kommt zur absoluten Unzeit, und das doppelt. Normalerweise wären die Lichtspielhäuser jetzt voll: im Winter, wenn es draußen dunkel, kalt und schmuddelig ist und die Alternativen ohnehin eingeschränkt sind.
Vor allem hätte man gerne drauf angestoßen, dass Krane vor 15 Jahren das alte Scala-Filmtheater in der Futterstraße übernommen und am 4. Januar 2006 als Camera Zwo neu eröffnet hat. Die Geburtstagssause fällt nun notgedrungen aus, wobei Krane ohnehin eher nach 2024 schielt: „In drei Jahren wird gefeiert. Dann sind wir volljährig.“
100 000 Euro hatte Krane, zuvor Geschäftsführer der Saarfilm (Passageund UT-Kinos), seinerzeit in die Modernisierung des Scala gestreckt. Rückblickend schildert der Investor das Projekt Camera Zwo als „eine Mischung aus cineastischer Euphorie und kaufmännischer Naivität“.
Die alte Camera an der Berliner Promenade, die mit Namen und Arthouse-Konzept Pate stand, war Geschichte. Bestand überhaupt Bedarf für ein weiteres Kunstfilm-Kino, parallel zum Filmhaus? Ausgerechnet in den Räumen eines traditionstreichen Mainstream-Kinos, das unter dem Druck der Konkurrenz japste? Mit sechs Sälen für bis zu 456 Besucher? Tollkühn.
Doch dann erzählte die Wirklichkeit eine überraschende Erfolgsstory, bei der, so Krane „das Bauchgefühl über den gesunden Menschenverstand triumphierte“. Die Bilanz: weit über eine Million Zuschauer, über 2000 Filme, ungezählte Poetry Slams, Vorträge, Lesungen und Konzerte – derlei Sonderveranstaltungen, darunter auch Comedy und Kabarett, wurden in den letzten Jahren massiv ausgebaut und haben sich längst als zweites Standbein etabliert.
„Fünf Jahre Fuß fassen, fünf Jahre digitale Revolution, fünf Jahre Konsolidierungsbetrieb, heißt: entspannt Kino machen und neue Formate entwickeln“, fasst Krane die Entwicklung in Dreierpäckchen zusammen. 2012 mussten für teuer Geld digitale Beamer her; im letzten Drittel wurden außerdem fünf neue Tonanlagen angeschafft und das Foyer aufgehübscht.
Dass die Camera Zwo Besucher ans Filmhaus verloren hat, weil Krane seit 2017 auch dort das Programm
verantwortet, sieht er entspannt. Zum einen, weil die beiden Filmtheater nicht wirklich miteinander rivalisieren – die Camera Zwo segelt, bei allem filmkünstlerischen Anspruch, deutlich näher am Mainstream.
Außerdem, meint Krane grinsend, „prügeln sich die Leute dadurch hier wenigstens nicht mehr um die Karten“. So geschehen im Jahr 2014, als die französische Komödie „Monsieur Claude und seine Töchter“ab August einen unerwarteten Ansturm auslöste.
Dass das Publikum seine Camera Zwo liebt und die Menschen dahinter wertschätzt, zeigt sich auch während des Lockdowns. „Da gibt’s so viele liebe Leute, die uns nette Briefe oder Schokolade in den Kasten stecken, um uns Mut zu machen“, erzählt Anna Reitze. „Andere klopfen an, ob sie einen Saal nur für sich als einzelnes Pärchen mieten und ihren Wunschfilm gucken dürfen.“
Natürlich freut sie sich über solche als Unterstützung gedachte Anfragen, muss sie aber allein schon aus rechtlichen Gründen freundlich ablehnen. Zumal es momentan eben darum gehe, jegliche Mobilität weitgehend einzuschränken. Insofern ärgern sich Krane und Reitze über den wirkungslosen, weil halbherzigen „Lockdown light“ab November, wobei der ihnen die drei besten Tage des vergangenen Jahres bescherte: Am letzten Oktober-Wochenende wurde das Kino kurz vor Toreschluss nochmal regelrecht gestürmt.
„Ansonsten haben wir 71 Prozent unseres gesamten Umsatzes in den ersten acht Wochen des Jahres und den Rest zwischen Juni und November gemacht“, berichtet Reitze. „Verdient haben wir keinen Cent“, ergänzt Krane – die Überbrückungshilfen reiche er quasi Eins zu Eins an den Vermieter weiter.
Dennoch ist ihm um die Existenz des Kinos im Allgemeinen und die der Camera Zwo im Besonderen nicht bange, trotz der pandemisch erstarkten Konkurrenz von Streaming-Diensten
wie Netflix oder Amazon. „Die Leute wollen nicht ständig zu Hause hocken“, da ist er mit Reitze einig.
Das Problem seien die Strukturen drumrum: Filmproduktion, Marketing, Verleih. Krane: „Woher Filme nehmen? Momentan wird ja so gut wie nichts gedreht.“Was im Herbst hätte anlaufen sollen, wurde durch den Shutdown prompt wieder ausgebremst. Wenn die Kinos wieder öffneten, dränge wahrscheinlich alles gleichzeitig auf den Markt – Krane befürchtet eine „chaotische Programmpolitik“.
Aber bis dahin ist es womöglich noch lange hin. Was treibt man derweil? „Ich mache hier normalerweise im Durchschnitt 17 000 Schritte täglich, treppauf, treppab“, sagt Reitze, die als Kinoleiterin das Organisatorische stemmt und sich mit Krane die Buchhaltung teilt. „Ich habe gemerkt, dass ich nicht nichts machen kann.“
Also fing sie an, zunächst Masken und gegen Jahresende schließlich Einkaufs-Taschen aus alten Filmbannern zu nähen, die sie auf Spendenbasis abgibt – der bisherige Erlös floss als eine Art Weihnachtsgeld an ihre Aushilfen. Das Wenige, was sonst aktuell anfällt, streckt sie schon: Bürokram, ein paar Förderanträge schreiben. „Das eigentliche Problem“, sagt Reitze, „ist ein mentales: Man will halt um 18 Uhr die Tür aufschließen!“.
„Eine Mischung aus cineastischer Euphorie und kaufmännischer Naivität.“
Michael Krane
schildert, wie es dazu kam, dass er seinerzeit überhaupt wagte, das ehemalige Scala-Kino zu übernehmen