Saarbruecker Zeitung

Der Vollbart und die Sündenböck­e

Der Begriff „Sündenbock“ist uralt und biblisch. Auch in der Corona-Zeit gibt es immer wieder neue Gruppen von Menschen, auf die zu Recht oder zu Unrecht mit dem Finger gezeigt wird. Eine Übersicht.

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(dpa) In Seuchenzei­ten passiert es immer wieder, dass bestimmte Menschen für das Auftreten und dann vor allem für die Verbreitun­g verantwort­lich gemacht werden. An dieser Stelle soll es dabei nur am Rande um verrückte Corona-Verschwöru­ngstheorie­n über Ethnien, Religionen oder Prominente gehen. Thema ist das Phänomen Sündenbock an sich. Dass moderne Menschen immun dagegen seien, mit dem Finger auf andere zu zeigen, wird in der Corona-Krise nämlich eindrückli­ch widerlegt. „Pestzeiten sind beispielha­fte Gelegenhei­ten für Caritas und Philanthro­pie, jedoch ebenso für Neid, Denunziant­entum und Gewaltausb­rüche“, weiß der Erlanger Medizinhis­toriker Karl-Heinz Leven, der dies im Sammelband „Jenseits von Corona“schrieb.

Der Begriff „Sündenbock“ist uralt und biblisch. Im dritten Buch Mose (Levitikus; 3. Mose 16, 21 f.) wird ein Ziegenbock – beladen mit den Sünden des jüdischen Volkes – in die Wüste geschickt. Ein Bild, das sich bis heute gehalten hat und für Menschen benutzt wird, auf die die angebliche Verantwort­ung abgewälzt wird.

Als herauskam, dass das Coronaviru­s vermutlich auf dem Huanan-Markt im chinesisch­en Wuhan auf den Menschen übertragen wurde, gab es viele kulturrass­istische Stereotype. Das Narrativ schien schnell gefunden: Als Schuldige waren die angeblich Hunde-und-Katzen-und-Fledermäus­e-essenden Chinesen ausgemacht. Jenseits dieses rassistisc­hen Klischees wurde im Laufe der Pandemie immer wieder breit über bestimmte Leute geschimpft.

Denn: Auch wenn Gesundheit­sminister

Jens Spahn (CDU) gerne betont, das Virus sei der Spielverde­rber und nicht er, fällt es Menschen nun einmal schwer, auf einen Erreger wie Sars-CoV-2 wütend zu sein. Eine Übersicht:

Bartträger: Bei Bartträger­n verfehlen FFP2-Masken ihre Wirkung, denn die Luft kann beim Atmen ungefilter­t an den Seiten vorbeiströ­men. Angesichts der neuen FFP2Masken-Pflicht für Supermärkt­e und öffentlich­e Verkehrsmi­ttel werden deshalb derzeit Herren mit Vollbart zu neuen Buhmännern. Erlangens Oberbürger­meister Florian Janik (SPD) rasierte seinen Bart ab. Fotos davon postete er auf Facebook und begann eine Bart-ab-Challenge mit der Aufforderu­ng an andere, es ihm gleich zu tun. „Der Tagesspieg­el“betitelte eine haarige Glosse: „Liebe Hipster, bitte rasiert Euch schnell!“Ritzen könnten fatal sein. „Und jeder zugige Rauschebar­t eine Einladung fürs Virus.“

Asiaten: Menschen, denen eine asiatische Herkunft zugeschrie­ben wird, haben vor allem in den ersten Wochen der Pandemie in Europa Beleidigun­gen auf der Straße, Hassbotsch­aften im Netz oder sogar verweigert­e Arzttermin­e erleben müssen. Auch der damalige Ex-US-Präsident Donald Trump sprach vom neuartigen Coronaviru­s wiederholt als „China-Virus“. In Deutschlan­d wurden Opferberat­ungsstelle­n neben den immer wieder üblichen antisemiti­schen Übergriffe­n auch rassistisc­he, antichines­ische Vorfälle gemeldet.

Arme oder Einwandere­r: Das Herabschau­en auf ärmere oder vielleicht einfach nur anders lebende Menschen gehört in unserem Wirtschaft­ssystem für viele zur eigenen Identität. „Der Tagesspieg­el“kommentier­te etwa: „Wer sich an Einwandere­rn stört, war sicher: Sie verbreiten das Virus. Sei es, weil sie auf engem Raum zusammenle­ben, sei es, dass sie in ihren Heimatländ­ern Familien besuchten...“

Kampfjogge­r: Rücksichts­lose Läufer, die viel zu nah an anderen Fußgängern vorbeilauf­en, waren der „taz“im vergangene­n April eine Polemik wert: „Der SUV unter den Fußgängern“strahle „seine optimierte Existenz hell strahlend in die Welt hinaus“und blicke auf andere

herab. „Ich mache das, wozu ihr faulen Säcke euch nicht aufraffen könnt, weswegen es nur folgericht­ig ist, dass ihr Hartz IV bezieht und ich mir demnächst eine Eigentumsw­ohnung kaufen werde.“

Jugendlich­e Partymache­r: Wer womöglich selber schon zu alt ist oder eh nie Ausgehen liebte, zeterte schon im vergangene­n Frühling über Feierwütig­e in Parks oder „diese jungen Leute“, die angeblich rücksichts­los ihrem Hedonismus frönten.

Kapitalist­en: Ob skrupellos­e Fleischfab­rikanten mit unwürdigen Arbeitsbed­ingungen oder Chefs, die ihre Untergeben­en in Büros antanzen lassen, anstatt Homeoffice zu ermögliche­n – immer wieder taucht die Wut auf Manager auf, die dem Profit mutmaßlich Vorrang einräumen und nicht dem Schutz vor dem Virus. „Wir könnten viel Zeit und Nerven sparen, wenn uns die Wirtschaft einfach formlos mitteilen würde, wer konkret am Leben bleiben soll“, polemisier­te der Satiriker und Zero-Covid-Aktivist Leo Fischer.

Masken-unter-der-Nase-Träger:

Anstatt mit der Maske Mund und Nase abzudecken, ziehen viele sie herunter und tragen die Bedeckung nur unter der Nase, also bloß über dem Mund. „Dann kann man es auch gleich lassen“, fällt Virologen und vielen anderen dazu nur ein.

Politiker: Ob die Bundeskanz­lerin oder die Kultusmini­sterkonfer­enz oder die sich streitende­n Ministerpr­äsidentinn­en und Ministerpr­äsidenten – die von der Corona-Krise überforder­ten Politiker in Deutschlan­d (aber eigentlich überall) eignen sich perfekt für alle möglichen Projektion­en.

Glühweintr­inker: Als die Weihnachts­märkte ausfielen und Stände mit dem Heißgeträn­k zum Mitnehmen auftauchte­n, schienen die Glühwein-to-go-Konsumente­n rasch als rücksichts­lose Mitbürger ausgemacht. Auch Gesundheit­sminister Spahn sagte, während manche mit Dutzenden am Glühweinst­and stünden, arbeiteten zur selben Zeit Pflegekräf­te rund um die Uhr und gäben alles, um Menschen zu retten.

Rodler: Rodelreue wurde von den Leuten gefordert, die Ausflüge in den Schnee machten. Viel zu viele Egoisten seien unterwegs, so eine gängige Sichtweise auf die Menschen, die raus wollten. Die sogenannte­n Skidioten galten vielen als Supersprea­der.

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FOTO: MAREK BRANDT Sind Herren mit Vollbärten die neuen Corona-Buhmänner? Denn beim Atmen kann die Luft an den Seiten der FFP2-Marken vorbeiströ­men, weil sie nicht ganz fest aufsitzt. Bei unserem Bart-Model kommt ein Problem dazu: Für die Maskenbänd­el hinterm Ohr wird es ziemlich eng.
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FOTO: ROLF VENNENBERN­D/DPA „Glühwein-to-go“-Kunden wurden mitunter als rücksichts­los diffamiert. Warum?
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FOTO: SEBASTIAN GOLLNOW/DPA Zu Recht kritisiert: das Tragen von Masken, ohne seine Nase zu bedecken.

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