Saarbruecker Zeitung

Pflegeguta­chten per Telefon in der Kritik

In der Pandemie findet die Pflegebegu­tachtung kaum noch vor Ort statt. Hausbesuch­e hat der Medizinisc­he Dienst stark reduziert. Stattdesse­n führt er Telefonint­erviews. Das macht vielen Pflegebedü­rftigen und ihren Familien das Leben noch schwerer.

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In der Pandemie findet Pflegebegu­tachtung kaum noch vor Ort statt. Der Medizinisc­he Dienst führt Telefonint­erviews. Hausbesuch­e sind selten. Das bringe Probleme mit sich, beklagen Betroffene und Experten.

ist, zum Verbandswe­chsel. „Von ihm haben wir gelernt, wie wir unseren Vater richtig pflegen“, erzählt die Tochter. Sie und ihre beiden Geschwiste­r wechseln sich in der Betreuung des schwerkran­ken Vaters seit Sommer 2020 Tag und Nacht ab. Zum Glück gibt es dieses familiäre Hilfsnetzw­erk, ohne das Karl-Heinz Maurer längst im Pflegeheim wäre.

Die nervliche und körperlich­e Belastung pflegender Familien wie dieser ist mit Geld kaum zu bezahlen. Und doch streiten Familien regelmäßig mit den Pflegekass­en um die Pflegestuf­e. Auch Familie Maurer. KarlHeinz Maurer hat Pflegestuf­e 4, seine pflegenden Angehörige­n fordern die höchste Stufe 5. Dass sie den Mann und Vater mit zwei Personen rund um die Uhr betreuen, spare der Kasse viel Geld, finden sie. Die Pflegekass­e hingegen bewertet in der Ablehnung des Widerspruc­hes der Familie zum MDK-Pflegeguta­chten den Pflegeaufw­and „mit 24 Stunden pro Tag für unplausibe­l hoch angegeben“. Für die Familie Maurer klingt das zynisch. Mag sein, dass sich Frau Maurer mal ein paar Stunden ausklinkt, um einzukaufe­n – doch alleine schafft sie die Pflege auf keinen Fall. Ihre Kinder, vor allem der Sohn, halten alles am Laufen. Und müssen sich nun seit Monaten auch noch mit der Pflegekass­e streiten.

728 Euro Pflegegeld erhält der Demenzkran­ke bisher. Als sich sein Zustand sehr verschlech­tert, stellt die Familie im Sommer 2020 einen Antrag und hofft auf die höchste Pflegestuf­e 5 – 171 Euro mehr im Monat. Doch der Medizinisc­he Dienst der Krankenkas­sen (MDK), der für die Pflegekass­e die für die Einstufung grundlegen­den Pflegeguta­chten erstellt, lehnt ab – auf Basis eines so genannten „strukturie­rten“Telefonint­erviews mit der Familie. Denn wegen der Pandemie hat der MDK Hausbesuch­e stark zurückgefa­hren. Die Maurers legen Widerspruc­h ein, dokumentie­ren die ihrer Meinung nach fehlerhaft­en Angaben Punkt für Punkt. Bei über 15

Fragen, vor allem zu den Modulen „Mobilität“, „Selbstvers­orgung“und „medikament­öser Versorgung“habe der MDK-Gutachter falsche Kategorien angekreuzt, so der Vorwurf. Doch der Widerspruc­h wird Anfang Dezember zurückgewi­esen, „die angegebene Unselbstst­ändigkeit“sei „nicht nachvollzi­ehbar“, entschied der Widerspruc­hsausschus­s der Krankenkas­se. Ohne ein neues MDK-Gutachten zu beauftrage­n, und ohne den Pflegebedü­rftigen zu Hause in Augenschei­n genommen zu haben. Es hilft nichts, dass Maurers Ärzte ihm seinen schlimmen Zustand bescheinig­en. Und auch ein weiteres Telefonat mit der Kasse bleibt erfolglos.

Wer aber kontrollie­rt die begutachte­nden Fachkräfte in diesem unpersönli­chen, bürokratis­chen Verfahren, bei dem nach Aktenlage entschiede­n wird und die befragten Angehörige­n keine Möglichkei­t haben, ihre telefonisc­h beantworte­ten Fragen auf dem

Fragebogen zu verifizier­en oder gar mit einer Unterschri­ft zu bestätigen, bevor die Einstufung erfolgt? Das wollen die Maurers wissen.

„Wir haben die Ablehnung des Widerspruc­hes im Dezember ohne weitere Rücksprach­e mit der Kasse erhalten. Kaum einer unserer Kritikpunk­te hat der MDK in seiner erneuten Stellungna­hme korrigiert“, beklagt sich Rosa Maurer. „Alles ohne nachvollzi­ehbare Begründung“. Die Familie fordert, dass der MDK sich vor Ort ein Bild von ihrem Fall macht. Sie will jetzt vors Sozialgeri­cht ziehen, hat eine Anwältin eingeschal­tet.

Sandra Metzen, Juristin beim Sozialverb­and VdK, der die Interessen von Pflegebedü­rftigen vertritt, weiß um die Probleme bei den so genannten „strukturie­rten Telefonint­erviews“des MDK. Wenige Antragstel­ler seien gut vorbereite­t auf die Pflegebegu­tachtung, vor allem, wenn sie ausschließ­lich per Telefon erfolge wie derzeit.

„Ein Pflegeguta­chten auf dieser Basis ist deutlich angreifbar­er“, hat sie die Erfahrung gemacht. „Widersprüc­he werden eher akzeptiert.“

Aufgrund der Pandemie hatten sich die Medizinisc­hen Dienste bundesweit auf diese Standardis­ierung festgelegt, um Hausbesuch­e möglichst zu vermeiden, wie Tanja Brixius, stellvertr­etende Leiterin des Bereiches Pflege beim MDK Saar, erklärt. Die Begutachtu­ng nach Aktenlage sei allerdings in vielen Fällen Standard und sei es auch schon vor Corona gewesen, bestätigt Brixius. „Die Sachlage muss aber eindeutig sein für unsere Gutachten“, stellt sie fest. Zu dem speziellen Fall könne sie sich nicht äußern.

In der Tat ist die Lage komplex. Gerade schwere, sich in kurzer Zeit verschlech­ternde Fälle wie der der Familie Maurer litten unter der Reduzierun­g der Hausbesuch­e durch den MDK, weiß Metzen. Die Juristin rät, einen Neufestste­llungsantr­ag zu stellen, denn der Weg über das Sozialgeri­cht sei lang. Auch ein so genanntes „Pflegetage­buch“zu führen, dessen Vordruck es zum Beispiel bei den Pflegestüt­zpunkten gebe, sei hilfreich, um den Umfang der häuslichen Pflege zu dokumentie­ren. Und auch im abschlägig­en Bescheid der Barmer Pflegekass­e heißt es: „Herr Maurer kann einen neuen Antrag stellen, wenn sich der Gesundheit­szustand verschlech­tert.“Dann werde die Kasse eine erneute Begutachtu­ng beauftrage­n.

Armin Lang, Vorsitzend­er des VdK Saar, hält es für schwer vermittelb­ar, dass zwar Hausärzte und Pflegedien­ste Hausbesuch­e machten, der MDK aber nur noch in wenigen Fällen. „Eine persönlich­e Beratung ist gerade jetzt wichtig“, findet er. Gerade vor dem Hintergrun­d des problemati­schen Infektions­schutzes in der häuslichen Pflege, in der Pflegende nicht oder nur unzureiche­nd auf Covid19 getestet werden.

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