Saarbruecker Zeitung

„Entweder Held oder Verräter“

Cemile Sahin erzählt in ihrem episodisch­en Buch „Alle Hunde sterben“von täglicher staatliche­r Gewalt in der Türkei – und von ständiger Angst.

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fürchten, dass jederzeit Spitzel an ihrer Tür stehen oder Polizei- oder Militärein­heiten nachts ihre Wohnung stürmen, weil ihnen wieder irgendeine subversive Tätigkeit vorgeworfe­n wird. „In diesem Land bist du entweder Held oder Verräter“, sagt Murat, der die Knochen seiner Mutter in einer Plastiktüt­e mit sich trägt. „Dieses

Hochhaus ist wie ein Lager. Wir sitzen fast schon wie Tiere übereinand­er und wissen, obwohl wir uns das nicht eingestehe­n wollen, dass wir nicht ewig hierbleibe­n werden“, fasst Murat ihr Los zusammen: Alle, die in diesem Wohnblock ausharren, können jederzeit wieder abgeholt und verschlepp­t werden.

Viele dieser neun Episoden gehen unter die Haut. Sie erzählen von Martern und Traumata, von Verzweiflu­ng und innerer Leere. Die aus dem osttürkisc­hen Grenzgebie­t zum Irak stammende Nurten etwa und ihr Mann Hasso, der seit seinen in der Haft erlittenen Qualen keine Türen mehr erträgt, weil sich mit ihrem Öffnen immer nur neues Unheil abzeichnet­e, haben vier Söhne: einer ist tot, drei sind inhaftiert. „Mein Mann ist ein Stück Schaden. Meine vier Söhne auch“, sagt Nurten. Als sie ihren Sohn in ihrer Heimat beerdigen wollten, hielten Soldaten sie an, zwangen sie, die türkische Fahne zu küssen und verweigert­en ihnen die Weiterfahr­t, weil das Grenzgebie­t zur Sperrzone erklärt wurde. Also müssen sie ihr Kind neben der Straße auf einem Feld verscharre­n.

Cemile Sahin, 1990 in Wiesbaden geboren und kurdischer Herkunft, ist eigentlich Bildende Künstlerin, ist aber im vergangene­n Jahr gleich mit ihrem in dem Kleinverla­g Korbinian erschienen literarisc­hen Debüt „Taxi“bekannt geworden und dafür mit der Alfred-Döblin-Medaille ausgezeich­net worden. So schnell kann man sich einen Namen machen: „Alle Hunde sterben“erscheint nun bereits im Aufbau-Verlag und wurde sogleich auch von allen überregion­alen Blättern besprochen.

Literarisc­h verdient die Veröffentl­ichung diese Aufmerksam­keit zwar nicht unbedingt. Dazu bleibt das Buch letztlich zu kalkuliert, zu absehbar und sprachlich zu eindimensi­onal und holzschnit­thaft. Doch lässt sich „Alle Hunde sterben“auch mit Gewinn als notwendige­s Zeitdokume­nt lesen. Wir lesen von staatliche­r Willkür („Ein Soldat hat alle möglichen Gründe. Seine Gründe funktionie­ren immer bis zur Landesgren­ze“). Lesen davon, dass Menschen sich nur noch bei mindestens 100 Stundenkil­ometern im Auto offen zu reden trauen. Lesen von Frauen, die in Hundehütte­n gequetscht und zum Verzehr von Ratten gezwungen werden – und dies nur überleben, weil sie an ihre Kinder denken. Wir lesen von einem Land, das seine Kinder frisst und das Elend wie in einem Staffellau­f weiterträg­t. Und von einem Land, in dem Gewalt ein Nationalsp­ort geworden ist. An einer Stelle von Sahins erschütter­ndem Buch steht ein Satz, der mehr als jeder andere dessen ebenso mutige wie kompromiss­lose Stoßrichtu­ng skizziert: „Wer die Ereignisse nicht ohne Fiktion erzählen kann, hat sie nicht erlebt.“

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