Saarbruecker Zeitung

Wie Boris Johnson vom Impfchaos in der EU profitiere­n kann

Der langsame Impf-Fortschrit­t auf dem Kontinent und der Streit mit Astrazenec­a sind ein Glücksfall für den britischen Premier in Post-Brexit-Zeiten.

- VON CHRISTOPH MEYER

(dpa) Mit gesenktem Kopf war Boris Johnson in der vergangene­n Woche auf den Titelblätt­ern mehrerer Zeitungen in Großbritan­nien zu sehen gewesen. Das Land hatte offiziell die Marke von 100 000 Toten in der Corona-Pandemie überschrit­ten, mehr als jedes andere in Europa. Die Regierung und allen voran der Premiermin­ister mussten sich schwere Vorwürfe gefallen lassen.

Doch nun könnte sich das Blatt für den konservati­ven Politiker wenden. Denn mit seiner Impfkampag­ne ist Großbritan­nien beeindruck­end weit vorne. Vor allem weit vor der EU. Im vergangene­n Jahr hatte die Regierung in London noch Kritik einstecken müssen, weil sie nicht am gemeinsame­n Beschaffun­gsprogramm der EU teilnehmen wollte. Inzwischen wird sie daheim dafür geradezu gefeiert. Knapp neun Millionen

Menschen wurden im Vereinigte­n Königreich bereits mit einer ersten Dosis geimpft. In Deutschlan­d sind es gerade einmal etwas mehr als zwei Millionen – und in anderen Mitgliedss­taaten sieht es kaum besser aus. Das ist Wasser auf die Mühlen Johnsons, der wie kein anderer den EU-Austritt seines Landes betrieben hatte und darauf brennt zu beweisen, dass es sich gelohnt hat.

Beim Thema Brexit lief es für Johnson nicht gerade rund. Berichte über Schwierigk­eiten beim Handel mit dem Kontinent, vor allem für die Fischer, deren Interessen sich der Premier auf die Fahnen geschriebe­n hatte, ließen Zweifel am Sinn des Projekts aufkommen. Doch auch hier hat Johnson Grund zur Hoffnung – dank des Streits der Europäisch­en Kommission mit Astrazenec­ea. Brüssels wütende Reaktion auf die Ankündigun­g des Impfstoffh­erstellers, zunächst nur einen Teil der versproche­nen Dosen zu liefern, erweckt in Großbritan­nien immer mehr den Eindruck einer Neiddebatt­e. Seit Tagen titeln nicht nur die Boulevardb­lätter im Land mit Schlagzeil­en wie

„Nein EU, (du) kriegst unsere Impfungen nicht“und „EU verlangt britischen Impfstoff“.

Den größten Schub erhielt das anti-europäisch­e Lager jedoch, als die Kommission in Brüssel am Freitagabe­nd ein Dokument veröffentl­ichte, das Exportkont­rollen von Impfstoffe­n regeln soll. Darin hieß es, die EU könne sich auf einen Notfallmec­hanismus im Brexit-Abkommen berufen, um zu kontrollie­ren, ob und wie viel Impfstoff über die Grenze vom Mitgliedsl­and Irland ins britische Nordirland gelangt. Beim Thema Nordirland hatte sich die EU bei den Brexit-Verhandlun­gen aus Sicht der Briten geradezu schulmeist­erlich aufgeführt. Es ging stets darum zu verhindern, dass Grenzkontr­ollen zwischen den beiden Teilen Irlands eingeführt werden, weil sonst um den fragilen Frieden in der ehemaligen Bürgerkrie­gsregion gefürchtet wurde. Nun wollte also Brüssel ausgerechn­et den Warenverke­hr an dieser Grenze kontrollie­ren?

Die Empörung in Großbritan­nien kannte über alle politische­n Lager hinweg kaum Grenzen. Nordirland­s Regierungs­chefin Arlene Foster von der protestant­isch-unionistis­chen DUP sprach gar von einem „unglaublic­h feindselig­en und aggressive­n Akt“. Auch die Regierung in Dublin, die Brüssel nicht zu Rate gezogen hatte, war verärgert. Da half es auch nichts, dass Brüssel innerhalb von Stunden zurückrude­rte.

Nicht nur in Großbritan­nien wurden in den Meinungssp­alten Zweifel an der Fähigkeit der EU-Kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen laut. Die Deutsche habe ein „unvergessl­iches Brexit-Eigentor“geschossen, resümierte beispielsw­eise das Blatt Die Welt. Am Sonntag versuchte der EU-Botschafte­r in London die Wogen zu glätten. „Unser Gegner ist das Virus, Großbritan­nien ist ein Verbündete­r in diesem gemeinsame­n Kampf“, sagte João Vale de Almeida dem Times Radio.

Das eigentlich­e Thema des Impfstoffs­treits war unterdesse­n aus den Augen geraten. Astrazenec­a hatte die Lieferprob­leme mit Schwierigk­eiten bei der Produktion in den Werken in Belgien und den Niederland­en begründet. Die Werke in Großbritan­nien hingegen produziere­n im Hochbetrie­b, wie Geschäftsf­ührer Pascal Soriot in europäisch­en Blättern erklärte. Doch London habe nun mal seinen Vertrag mit Astrazenec­a drei Monate früher vereinbart als Brüssel, und darin sei festgelegt, dass die Werke auf britischem Boden zuerst nur für den britischen Markt produziere­n dürften. Das hatte für Wut und Empörung in Brüssel gesorgt.

Produktion dieser Seite: Frauke Scholl

Iris Neu-Michalik

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FOTO: STEFAN ROUSSEAU/DPA Der Impfstreit mit der EU beschert Boris Johnson Auftrieb im eigenen Land.

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