Gamestop bringt US-Finanzsystem ins Schlingern
Aktivisten fügen mächtigen Hedgefonds mit organisierten Aktienkäufen gewaltige Verluste zu. Doch ihre Strategie birgt Risiken.
(ap) Millionen Menschen haben in den USA durch die Corona-Pandemie ihren Job verloren. Sie schlagen sich mit Schulden herum, teuren Krankenversicherungen, und viele driften noch mehr in Armut und Isolation ab. Gleichzeitig sind die Superreichen 2020 noch viel reicher geworden. Die Pandemie hat dieses Ungleichgewicht auf dramatische Weise verschärft. Tausende Aktivisten legen sich deshalb jetzt über Smartphones und Laptops mit der Wall Street an und bringen damit das US-Finanzsystem gewaltig ins Schlingern.
Fast zehn Jahre ist es her, dass Demonstranten der Bewegung Occupy Wall Street das Finanzzentrum der USA in New York belagerten, gegen die Praktiken der Spekulanten und den Einfluss der Wirtschaft auf die Politik demonstrierten und eine Verringerung der sozialen Ungleichheit forderten. Die Wall Street machte danach mehr oder weniger weiter wie bisher, doch jetzt ist sie auf ganz andere Weise wieder unter Beschuss.
Aktivisten organisierten sich in einem Chatroom der Online-Plattform Reddit, kratzten ihr letztes Geld zusammen und investierten es über Trading-Apps wie Robinhood in den US-Videospielhändler Gamestop und andere angeschlagene Unternehmen. Deren Aktien legten daraufhin sagenhafte Höhenflüge. Gleichzeitig und keineswegs zufällig verloren die Hedgefonds der Superreichen gewaltige Summen, weil sie Wetten darauf abgegeben hatten, dass die Aktien von Gamestop und anderen sinken würden.
Es mag wirken, als hätte der Kampf David gegen Goliath Erfolg, doch die Strategie der Erstund Kleinanleger birgt große Risiken.
Die Preise für die Aktien liegen mittlerweile um ein Vielfaches über dem Wert, der nach Umsatz, Gewinnen und wirtschaftlichen Aussichten der jeweiligen Unternehmen gerechtfertigt wäre. Jederzeit kann der Kurs einbrechen und den Aktivisten selbst ihr weniges Erspartes kosten.
Vielen ist das egal. Die Wut und der Antrieb der Aktivisten haben die Wall Street in Unruhe versetzt. Der Index S&P 500 verzeichnete soeben seinen größten wöchentlichen Verlust seit Oktober. Die Gamestop-Aktie legte am Freitag noch einmal um fast 70 Prozent zu. 1600 Prozent waren es in den vergangenen drei Wochen.
„Sie haben herausgefunden, wie sie das gleiche Spiel spielen können, das die Wall Street schon seit langer Zeit spielt“, sagt Robert Thompson vom Bleier Center für Fernsehen und Populärkultur an der Syracuse University.
Die Frustration und der Wut über das finanzielle Ungleichgewicht in den USA sind seit Jahren groß. Nirgendwo ist dieses Ungleichgewicht so deutlich zu sehen, wie an der Börse. Laut dem Ökonomen Edward Wolff von der New York University besitzen die reichsten zehn Prozent der Amerikaner rund 85 Prozent des Aktienvermögens.Durch Internet-Plattformen
und Apps, über die man ohne Kommission mit einem Klick Aktien kaufen kann, ist die Wall Street mittlerweile auch der breiten Masse zugänglich. Die Aktivisten nutzten diese Möglichkeit, um eine dubiose Praxis der Hedgefonds gegen diese selbst zu richten. Deren Manager und andere professionelle Anleger spekulieren auf fallende Kurse einer Aktie. Mit einem „Short Sale“verkaufen sie Aktien, die sie eigentlich noch gar nicht besitzen, kaufen sie selbst erst zu einem späteren Zeitpunkt bei niedrigerem Kurs und streifen die Differenz als Gewinn ein.
Wenn eine Aktie steigt statt zu fallen, kann das auf katastrophale Weise schiefgehen, wie der Gamestop-Fall deutlich gemacht hat. Die „Short Seller“, die dann trotzdem die jeweilige Aktie kaufen müssen, treiben den Preis selbst weiter nach oben. Dass Gamestop zum Flaggschiff der Aktivisten wurde, ist kein Zufall. Einige von ihnen sind Gamer, die nicht zulassen wollen, dass die strauchelnde Einzelhandelskette den Praktiken der Wall Street zum Opfer fällt. Andere wollen mit den Reichen abrechnen. Am Ende werde die Revolte wohl scheitern, sagt Goldstein. Einige der Wall-StreetFirmen profitieren, die sich die Reddit-Nutzer vorgenommen haben, selbst von deren Aktion. Erfahrene Spekulanten wägen ab, wie sie aus dem Chaos profitieren können. Dabei hilft ihnen, dass die Reddit-Nutzer öffentlich ihre Vorhaben ankündigen und die Profi-Anleger Zeit haben zu reagieren. „Ich vermute, dass es nicht die Robinhood-Investoren und Redditer sind, die das Geld verdienen“, sagt Goldstein.
Der Kurs von Gamestop legte zeitweise sagenhafte Höhenflüge hin.