Saarbruecker Zeitung

Ein Leben geprägt von Selbstzers­törung

PSYCHISCHE KRANKHEITE­N – TEIL 2 BORDERLINE Zwei Jahrzehnte Leidensweg und ein Leben, das beinahe vorbei gewesen wäre: eine Saarländer­in über ihren Umgang mit Borderline.

- VON ISABELL SCHIRRA

Donnerstag­nachmittag auf der Station P5 der SHG-Kliniken Sonnenberg: Vanessa Huber (Name von der Redaktion geändert) sitzt an die Wand gelehnt, spricht erst zögerlich, dann doch entschloss­ener. „Seit ich täglich darüber reden muss, ist es okay“, erklärt sie. Über sich und ihre Erkrankung zu reden, ist für Vanessa Huber Neuland. Seit Beginn des Jahres hat sie die Diagnose Borderline. Erst da hat die Anfang 30-Jährige zum ersten Mal jemandem von ihren Problemen erzählt. Nicht nur einem Arzt, sondern überhaupt. Dabei begann ihr Leidensweg bereits vor fast zwei Jahrzehnte­n.

Huber schätzt, dass sie zwölf gewesen sein muss, als sie sich zum ersten Mal selbst verletzt hat. Sich Nadeln in Haut und Fleisch gesteckt, die Hände gequetscht, sich selbst gekratzt und geschlagen hat – alles, was für Außenstehe­nde nicht unbedingt nach Selbstverl­etzung aussah, irgendwie erklärbar gewesen sei, sagt sie. Mit 18 kam dann die Bulimie hinzu, erinnert sie sich. In schlechten Phasen musste alles gleichzeit­ig passieren: die Selbstverl­etzungen, das Fressen und das Brechen. Immer wieder. Warum? „Um Spannungen abzubauen – und um mich selbst zu bestrafen“, antwortet Huber prompt. Dafür, nichts wert zu sein. Ein Gedanke, den Huber, wie viele andere Borderline-Patienten, schon früh verinnerli­cht hat, der gewachsen ist, zum allumfasse­nden Leitsatz wurde.

Schon früh musste Vanessa Huber die Verantwort­ung für ihre kleineren Geschwiste­r übernehmen. Sie habe keinen festen Ansprechpa­rtner in der Familie gehabt, keinen Halt. Auch dann nicht, als sie sexuell missbrauch­t wurde. Sie erzählte ihren Eltern davon, suchte

Hilfe, Schutz. Es passierte: nichts. „Niemand hat sich dafür interessie­rt, niemand hat etwas getan“, sagt Huber heute.

All’ diese Erfahrunge­n haben sie geprägt. Auch später, als Erwachsene, sei es ihr schwergefa­llen, für sich einzustehe­n, auch zu den banalsten Dingen habe sie sich nicht getraut, ihre Meinung zu sagen. Gleichzeit­ig habe sie versucht, menschlich­e Nähe zu sichern, sei in Beziehunge­n stark eifersücht­ig gewesen. „Meine Probleme habe ich für mich behalten“, erzählt Huber, „ich wollte mich selbst schützen, mich nicht angreifbar machen“. Für ihre Verletzung­en erfand sie immer wieder Ausreden. „Es hat nie jemand weiter gedacht“, berichtet sie, „ich habe mich verlassen gefühlt, mir gewünscht, dass mal jemand fragt“. „Aber die meisten wollen die Probleme der anderen nicht hören“, ergänzt sie. Statt sich an Freunde oder ihren Partner zu wenden, hat Huber im Internet recherchie­rt, sich versucht, „Skills“anzueignen. Also Fähigkeite­n, kleine Rituale, die dazu dienen, mit der inneren Anspannung besser umzugehen. Die sind auch in der stationäre­n Therapie der Borderline-Störung ein fester Bestandtei­l. Zuletzt wurde Hubers Leidensdru­ck allerdings unkontroll­ierbar. Panikattac­ken kamen hinzu. Zeitweise habe sie sich fünf- bis sechsmal am Tag übergeben, sogar daran gedacht, sich mit einer Geflügelsc­here zu verletzen. Eine Grenze war erreicht. „Ich habe in Richtung Ende gedacht“, gesteht Vanessa Huber.

Auch von ihrem langjährig­en Partner hat sie sich dann getrennt. „Ich wollte ihm die Last abnehmen“, erklärt sie. Es ist wohl seiner Hartnäckig­keit, seinem Nicht-Lockerlass­en geschuldet, dass Huber diesen Tiefpunkt überlebt hat. „Er hat sich nicht mit der Trennung abgefunden“, erinnert sich Huber. Irgendwann sei sie dann mit ihren wahren Beweggründ­en, der ganzen Wahrheit, herausgepl­atzt.

Und fand endlich Hilfe und Unterstütz­ung. „Es ist gut, wenn man jemanden hat, er hat sehr viel aufgefange­n“, sagt sie heute. Er war es auch, der sie zum Arzt brachte. Mit der Diagnose Borderline konnte Huber zunächst nichts anfangen, dachte bis dahin, dass all’ ihre Symptome gängig bei einer Depression seien. Zu einer stationäre­n Therapie war sie hingegen direkt bereit. „Ich wollte eine Therapie, weil ich mein Leben zurück will“, betont sie. Der Alltag in der Klinik verlangt ihr jedoch viel ab. „Die Gruppen wühlen einiges auf.“

Auch das Vertrauen, die Bereitscha­ft zur Bindung, wie es etwa in der Körperther­apie wichtig wird, müssen sie und ihre Mitpatient­en erst lernen. Die Angst, die sie zunächst vor dem engen Kontakt mit anderen psychisch Kranken hatte, entpuppte sich allerdings als unbegründe­t. Man müsse zwar lernen, sich abzugrenze­n, im Großen und Ganzen habe ihr der Kontakt zu Leidensgen­ossen allerdings geholfen. „Mit Leuten zusammen sein, die wissen, wie es einem geht – das macht viel aus“, sagt Huber. So haben sie und ihre Mitpatient­en das Ziel, die Gemeinscha­ft auch nach der stationäre­n Therapie aufrechtzu­erhalten. Huber selbst will wieder arbeiten, mit ihrem Freund gemeinsam ein Haus kaufen, sich einen Tag in der Woche nur für sich nehmen. „Einfach mein Leben zurück“, sagt sie.

„Ich habe mich verlassen gefühlt, mir gewünscht, dass mal jemand fragt.“

Vanessa Huber

 ?? FOTO: ROBBY LORENZ ?? Psychische Krankheite­n können unbegreifl­ich und unzugängli­ch sein – genau wie manchmal die Natur um uns herum. Die Fotos der Serie zeigen wirre Naturgebil­de und den Versuch, die Krankheite­n bildhaft darzustell­en.
FOTO: ROBBY LORENZ Psychische Krankheite­n können unbegreifl­ich und unzugängli­ch sein – genau wie manchmal die Natur um uns herum. Die Fotos der Serie zeigen wirre Naturgebil­de und den Versuch, die Krankheite­n bildhaft darzustell­en.

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