Borderline: Die Abspaltung von der eigenen Person
Der Chefarzt der Psychiatrie der SHG-Kliniken Sonnenberg, Dr. med. Ulrich Seidl, über Symptome und Behandlung von Borderline-Patienten.
Was ist Borderline genau?
Seidl Borderline hat man früher als eine Art Persönlichkeitstypus bezeichnet. Inzwischen sieht man es eher als eine Krankheit, die irgendwann kommen, phasenhaft verlaufen und auch wieder abflauen kann. Das hebt Borderline von den Persönlichkeitsstörungen ab. Es gibt mittlerweile auch sehr viele neurobiologische Befunde, sehr viele Untersuchungen mit modernen Verfahren, um zu sehen, was bei Betroffenen im Gehirn passiert. Dabei fand man in der Verarbeitung von Informationen und bei Reaktionsmustern Auffälligkeiten, was dafür spricht, dass Borderline durchaus eine neurobiologische Basis hat. Die Symptomatik hat außerdem eine ganz eigene Qualität. Die Regulation des Gefühlslebens läuft hochgradig aus dem Ruder, viel mehr als man das von anderen Persönlichkeitsstilen kennt. Und es gibt möglicherweise einen Zusammenhang mit persönlichen Traumata. Die allermeisten Personen, die eine Borderline-Störung haben, hatten in der Kindheit oder der weiteren Entwicklung traumatisierende Erlebnisse. Was genau bei der Entstehung von Borderline eine Rolle spielt, weiß man aber noch nicht genau. Veranlagung und Trauma spielen eine große Rolle, dazu können aber noch andere Einflüsse kommen, die man noch gar nicht genau kennt.
Wie sieht die Symptomatik aus?
Seidl Ein ganz zentraler Aspekt ist das, was wir Affektregulationsstörung nennen. Die Betroffenen reagieren auf sehr geringe Anlässe mit stark überschießenden Gefühlsäußerungen oder sie nehmen teilweise gar kein Gefühl richtig wahr, sondern nur eine diffuse Spannung. Wenn sich jemand Gesundes über eine Situation schlicht ein wenig ärgern würde, dann ist das für einen Borderliner im Vergleich direkt ein riesiger Druck, der innerlich als enorme Spannung wahrgenommen wird. Betroffene greifen dann zu verschiedenen Maßnahmen, um sich zu entlasten. Das können aggressive Impulse sein, die nach außen gehen, viele richten es aber auch gegen sich selbst. Und dann kommt es zu den für Borderliner typischen Selbstverletzungen. Borderliner haben außerdem eine ganz große Angst vor dem Verlassenwerden, gleichzeitig aber ein ganz intensives Bedürfnis nach Nähe. Es werden schnell intensive Kontakte geknüpft, gleichzeitig wird diese Nähe aber als vernichtend und beängstigend erlebt. Einerseits, weil es zu dicht wird und das Angst macht, gleichzeitig aber auch, weil weiter diese Angst besteht, verlassen zu werden. Das ist das sogenannte Borderline-Dilemma. Nichts fühlt sich wirklich gut an. Wenn kein Kontakt da ist, ist der Wunsch nach Kontakt übergroß, wenn dann Kontakt da ist, ist es aber auch nicht gut. In den zwischenmenschlichen Beziehungen manifestiert sich Borderline sehr stark, zum Beispiel durch rasche Partnerwechsel und sehr extremes Verhalten, das richtig selbstzerstörerisch werden kann.
Kann Borderline auch einfach wieder abflauen?
Seidl Früher ist man davon ausgegangen, dass Borderline immer bleibt. Mittlerweile gibt es Studien, die den Verlauf genauer betrachten, und da gibt es tatsächlich Untersuchungen, bei denen die Borderline-Störung nach einigen Jahren gar nicht mehr nachweisbar ist. Es gibt eine Studie, die das nach sechs Jahren untersucht hat und bei der ungefähr drei Viertel der Patienten wieder beschwerdefrei sind.
Gibt es auch Fälle, in denen die Betroffenen ihr ganzes Leben lang mit der Krankheit kämpfen?
Seidl Es gibt sehr verschiedene Verläufe, natürlich auch Chronifizierungen. Die Verläufe sind aber nicht gleichförmig. Selbst bei Personen, die Borderline chronisch haben, gibt es immer wieder stärkeres Auftreten und dann wieder schwächeres. Es ist auch denkbar, dass Betroffene gar nicht in Therapie müssen. Das hängt dann allerdings davon ab, wie viele stützende Faktoren die Menschen in ihrem direkten Umfeld haben.
Wie prägnant ist der Hang der Betroffenen zur Selbstverletzung?
Seidl Selbstzerstörung ganz allgemein ist bei den Betroffenen ein sehr häufiges Symptom. Ein Grund dafür ist, dass die Betroffenen versuchen, durch destruktives Verhalten Spannungen zu lösen, typischerweise durch Schneiden in Arme oder Beine. Ein weiterer Aspekt der Selbstverletzung ist aber auch, dass die Betroffenen in Zustände kommen, die wir dissoziativ nennen. Das heißt, dass das Erleben wie abgespalten ist. Die Menschen spüren sich selber und die Welt nicht mehr. Vor allem werden die eigene Person und der Körper nicht mehr richtig wahrgenommen. Diese Art von Abspaltung kann man als seelischen Schutzmechanismus verstehen. Und auch in solchen Fällen kommt es häufig zu Selbstverletzung, damit die Betroffenen sich wieder spüren. Sie sind wie betäubt und brauchen ganz starke Schmerzreize, um sich überhaupt wieder wahrzunehmen.
Wie gestaltet sich die Behandlung von Borderline?
Seidl Insgesamt gesehen ist Borderline schwer zu therapieren, weil es sehr viel Fachwissen sowie ein ganz klares Konzept und eine klare Herangehensweise braucht. Das Therapieprogramm
dafür ist sehr spezialisiert und benötigt speziell ausgebildete Therapeuten. Es ist gestuft aufgebaut. Zuerst erklärt man den Betroffenen die Störung und vermittelt Verständnis dafür. Dann werden nach und nach entsprechende Fähigkeiten trainiert, und die Schritte werden immer wieder mit den Patienten reflektiert. Es gibt eine Vorbereitungsphase, dann eine stationäre Phase, dann eine teil-stationäre Phase sowie eine Nachbereitung. Wenn jemand entsprechend motiviert ist, dauert das Programm üblicherweise um die 13 Wochen. Ziel einer Therapie ist immer eine deutliche Symptomreduktion, konkret Spannungsreduktion oder weniger Selbstverletzung. In den allermeisten Fällen gelingt das auch sehr gut. Auch Medikamente werden bei der Behandlung oft sehr breit eingesetzt. Es ist aber sehr umstritten, welches Medikament wie hilft, und es ist auch im Einzelfall sehr unterschiedlich. In der Therapie sind die Medikamente aber nicht das Entscheidende. Borderline ist keine Krankheit, die ausschließlich einer medikamentösen Therapie zugänglich ist, begleitend sollte immer eine Psychotherapie erfolgen.
Wann kommen die Menschen zu Ihnen in die Klinik zur Behandlung?
Seidl In die Klinik kommen die Menschen meistens nur im Rahmen von akuten, krisenhaften Zuspitzungen. Das können zum Beispiel Trennungen oder andere Ereignisse sein, mit denen die Betroffenen überfordert sind. Oft können solche
Situationen zu suizidalem Verhalten führen. Auch das ist ein wesentlicher Aspekt von Borderline: Die Selbstzerstörung kann so weit gehen, dass es zur Suizidalität kommt. Wir machen dann eine Krisen-Intervention und gehen nicht direkt in das genannte Programm. Dazu muss man jemanden vorbereiten, entsprechend die Motivation prüfen und es müssen Vorgespräche stattfinden.
Gibt es bei der Diagnostik häufig Fehldiagnosen?
Seidl Psychiatrische Diagnostik ist eine gewisse Kunst, und man muss sehr viel an Informationen einbeziehen. Immer wieder kommt es natürlich auch zu Fehldiagnosen. Meiner Erfahrung nach werden die meisten Fehldiagnosen gemacht, wenn es um Selbstverletzungen geht. Oft wird da der Schluss gezogen: Selbstverletzung ist gleich Borderline. Borderliner können außerdem auch in depressive Phasen geraten. Hier wird dann häufig ausschließlich die Diagnose Depression gestellt und nicht gesehen, was eigentlich dahinter steht.