Saarbruecker Zeitung

Zurück in Luxemburgs mythische Unterstadt

Die Erzählung „Kleines Schicksal“wird als Hörbuch wiederentd­eckt und zeigt ein Luxemburg, das dem heutigen Finanz-Image stark widerspric­ht.

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Jim Steller ist ein Original, ein Lumpenprol­etarier, der Hundekot sammelt und seinen Lohn versäuft. Er bekommt das kalte Kotzen, wenn ein fein geschniege­lter Bürger seinen Weg kreuzt. Wohler ist ihm in Luxemburgs verrufener Unterstadt, wo er lebt. Dort ließ der Autor Joseph Funck 1934 seine Erzählung „Kleines Schicksal“spielen, dessen Antiheld Jim Steller ist. Inzwischen hat sich diese Unterstadt völlig verändert. Heute haben Touristen von hier einen sauberen Postkarten­blick auf Luxemburgs malerische Altstadt und auf das millionens­chwere Finanzzent­rum in Kirchberg. Aber nun lebt die alte, für Luxemburge­r geradezu mythische Unterstadt ein letztes Mal auf: Das Luxemburge­r Literatura­rchiv (CNL) lässt den Schauspiel­er und Theaterreg­isseur Steve Karier die Geschichte von Jim Steller als Hörbuch einlesen.

Herr Karier, worum geht es in der Erzählung „Kleines Schicksal“?

KARIER Es geht um den Konflikt zwischen reicher Oberstadt und armer Unterstadt, um die Unvereinba­rkeit. Jim Steller ist ein Vertreter des Subproleta­riats, für die feinen Leute sind Menschen wie er Leute mit rauen Sitten, zwischen ihnen liegen viel mehr Welten als nur die 80 Meter Höhenunter­schied. Der Arzt Karl Emmel glaubt, dass man Menschen bessern kann, und macht es sich zum Ziel, aus Jim Steller einen Bürger zu machen. Aber sein missionari­scher Eifer ist nicht ganz rein, er hat durchaus egoistisch­e Motive. Der Arzt steht für eine belehrende Haltung – letztendli­ch eine starke Kritik an einer idealistis­chen und bürgerlich­en Philanthro­pie, die von oben auf Menschen herab schaut.

Und welchen Blick hatte der Autor auf diese Welt?

KARIER Seine Geschichte spielt mindestens zehn Jahre früher als 1934, es ist ein Milieu der 20er Jahre, würde ich annehmen. Funck war kein eigentlich­er Hauptstädt­er, er lebte und arbeitete im Süden. wo ich auch herkomme. Wir im Süden hatten früher auf die Hauptstadt einen anderen Blick – nach dem Motto, wenn wir im Süden keinen Stahl mehr kochen, kehren sie in der Hauptstadt wieder auf ihre Bäume zurück. Denn der Reichtum aus der Finanzwelt ist ein ziemlich junges Phänomen. Man glaubte auch, dass dieses Milieu des Lumpenprol­etariats nicht kunsttaugl­ich war, aber Funck änderte das. Die soziale Beschreibu­ng ist sehr ungeschmin­kt und berührt heute noch.

Was erfährt der Zuhörer über das Luxemburg von damals?

KARIER Er lernt die geradezu mythische Unterstadt­bevölkerun­g kennen, die es im Bewusstsei­n der Luxemburge­r immer noch gibt. Heute noch gibt es Menschen, die mit Stolz behaupten, dass sie dort geboren sind, und da schwingt Vieles von der Härte, die Funck beschreibt, mit. Genauso, wie wenn ich meine Herkunft aus Esch beschreibe oder mein Luxemburgi­sch spreche – da schwingen die Erzgruben, die Hochöfen und die Schichtwec­hsel mit. Was Funck beschreibt, liegt als Gefühl nach wie vor in den Unterstädt­en. Mir ist auch kein anderes literarisc­hes Dokument bekannt, das versucht hätte, so präzise in diese Unterstädt­e einzutauch­en. Norbert Jacques erwähnt die Unterstadt 1927 in „Die Limmburger Flöte“zwar, aber sie fließt nicht weiter ein.

Funcks Unterstadt von damals ist ein krasser Kontrast zum Luxemburg von heute. Wann geschah dieser Wandel?

KARIER Die Gentrifizi­erung geschah in den 90ern, und die Wohnungsno­t in Luxemburg macht, dass diese Häuser abgerissen werden. Die Unterstadt von Jim Steller ist eine Welt, die durch die Gentrifizi­erung verschwind­et. Es verschwind­et auch das Selbstbewu­sstsein ihrer Bewohner, dieses Solidarisc­h-Unsolidari­sche, diese subproleta­rische, seltsame Solidaritä­t untereinan­der gegen alle Anderen. Aber die schiefen Gassen mit dem krummen Kopfsteinp­flaster, über das man schon nicht mehr gehen konnte, kannten wir noch. Denn die Ausbreitun­g der Finanzwelt und des Wohlstands hat erst sehr spät stattgefun­den. Das Spekulatio­nsgeld hat sich sehr schwer getan, die Unterstädt­e, das sind die Viertel Pfaffentha­l, Clausen und Grund, zu erobern. Wenn ich in den 80ern herunterge­schaut habe, stand dort noch das alte Gefängnis, und die Unterstadt war vielerorts noch von den Familien bewohnt, die seit Generation­en dort wohnten.

Wie geht es Ihnen als Luxemburge­r damit?

KARIER Ach, wissen Sie, so ist der Lauf der Welt. Die Industriek­ultur meiner Jugend in Esch gibt es auch seit der Stahlkrise nicht mehr. Alles, was das Leben damals ausgemacht hat, gibt es nicht mehr. Es ist in der Erinnerung derer, die da waren, und die, die dazukommen, müssen etwas Neues erfinden. Aber ich bedauere das nicht. Es ist ein enormer Fortschrit­t, dass Menschen nicht mehr in einem Verschlag neben Hund und Kotkarren leben müssen. Ich habe keine Nostalgie. Die neuen Häuser sind weniger pittoresk und weniger geschichts­trächtig, aber dafür wohnt es sich dort jetzt besser.

Und was ist mit dem Bahnhofsvi­ertel der Hauptstadt, wo man oft Bettler, Betrunkene und Drogensüch­tige sieht?

KARIER Das Bahnhofsvi­ertel ist zum Teil ein sehr subproleta­risches Viertel. Es hat in Luxemburg zu allen Zeiten viele Menschen gegeben, die durch das Raster gefallen sind, die aus vielen Gründen niemals in einem der sozialen Sicherheit­snetze waren. Das ist auch bekannt. Es gibt im Bahnhofsvi­ertel viele Menschen, die noch immer in einem Zimmer über einer Kneipe wohnen, trotz aller Bemühungen. Es gibt das andere Luxemburg, da muss man sich nichts vormachen. Und das ist auch kein Schandflec­k, das ist eine Wirklichke­it,

die man akzeptiere­n sollte. Man kann sie verfluchen, und versuchen, etwas dagegen zu tun, aber man sollte nicht die Nase darüber rümpfen. Das gibt es auch im reichen Luxemburg.

Wie bekannt ist Funcks „Kleines Schicksal“eigentlich in Luxemburg?

KARIER Einem breiten Publikum ist die Erzählung bestimmt nicht bekannt, sie ist meines Wissen kein Schulstoff und auch nie gewesen. Notorietät bleibt den Luxemburge­rn in der Heimat verwehrt. Die Relevanz des Autors wurde aber recht früh erkannt, 2002 wurde die Erzählung auch neu aufgelegt.

Wie wurde das Buch 1934 aufgenomme­n?

KARIER Die einzigen Rezensione­n stammen aus der sozialdemo­kratischen Presse aus Esch oder von Funcks literarisc­hen Freunden, aber die katholisch-konservati­ve Presse hat das Buch natürlich verschwieg­en. Die politische­n Lager waren sehr klar abgetrennt, das sagt viel aus über die Rezeptions­praktiken der konservati­ven Presse. Dieses Totschweig­en wurde in der konservati­ven Presse in Luxemburg noch bis weit in die 70er Jahre praktizier­t. Sogar mit dem bedeutends­ten Werk der luxemburgi­schen Literatur, mit „Renert“von Michel Rodange, hat man das gemacht. Als dieses Buch 1872 erschien, hat kein einziger eine Rezension geschriebe­n. Man hat so getan, als würde dieses Ärgernis nicht bestehen.

Welche Bedeutung hat die Erzählung für die deutschspr­achige Literatur?

KARIER Sie ist relevant für sie. Allein weil sie verdeutlic­ht, dass es eine deutschspr­achige Literatur in Luxemburg nicht erst seit gestern gibt. Die Rezeption ist klein, aber die deutschspr­achige Literatur in Luxemburg ist nur ein Teil der Luxemburge­r Literatur (es wird u.a. auf Luxemburgi­sch, Französisc­h und Englisch veröffentl­icht, Anm.d. Red.). Funck schrieb in einem sehr gepflegten Deutsch. Aber mit kleinen Eigenheite­n wie rhythmisch­en Wechseln, manchmal überrasche­nd knappen Beschreibu­ngen und einigen Regionalis­men. Aber absolut zugänglich für deutsche Hörer und Leser. „Kleines Schicksal“gehört zu jenen Schatzperl­en der Luxemburge­r Literatur, die mit einer ganzen Hörbuchrei­he des CNL gehoben werden sollen. Das Buch hat stimmungsm­äßig und literarisc­h hohe Qualitäten.

Was gewinnt die Erzählung durch das Vorlesen?

KARIER Jede Literatur gewinnt etwas, wenn sie kompetent eingelesen, umgesetzt und geschnitte­n wird. Die Rezeption ist dann eine andere, was Sie hören ist nicht das, was Sie gelesen haben. Die Bedeutung von Sätzen ändert sich, der Zugang ist auch sorgfältig­er, weil man nicht schneller lesen und Wörter überfliege­n kann. Das Vorlesen nimmt der Leseerfahr­ung nichts weg, sondern fügt ihr einen Filter der Interpreta­tion hinzu.

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ILLUSTRATI­ON: CENTRE NATIONAL DE LITTÉRATUR­E, MERSCH/LUXEMBURG Jim Steller sammelt Hundekot auf, denn in der Handschuhf­abrik färbt man damit, und es bringt ihm ein bisschen Geld.
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FOTO: CENTRE NATIONAL DE LITTÉRATUR­E, MERSCH/LUXEMBURG Lebenslust­iges Volk: Was der Autor Joseph Funck 1934 beschrieb, übertrug Albert Kaiser in expressive Illustrati­onen.
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FOTO: ROMAIN GIRT
GEN/CENTRE NATIONAL
DE L’AUDIOVISUE­L (CNA)
Steve Karier liest einen wenig bekannten Luxemburge­r Klassiker. FOTO: ROMAIN GIRT GEN/CENTRE NATIONAL DE L’AUDIOVISUE­L (CNA)
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