Die Hängepartie bei der Wahlrechtsreform geht weiter
Die Opposition will die Gesetzesnovelle vor dem Bundesverfassungsgericht zu Fall bringen. Und eine Reformkommission lässt seit Oktober auf sich warten.
BERLIN Ein von allen Parteien akzeptiertes Wahlrecht gehört zu den Grundvoraussetzungen einer funktionierenden Demokratie. Deutschland tut sich damit jedoch nach wie vor schwer. FDP, Linke und Grüne haben am Montag Klage gegen die Gesetzesnovelle eingelegt, um die von Union und SPD durchgesetzten neuen Auszählregeln noch vor der Bundestagswahl im September zu kippen. Wie ernst es der Koalition mit ihren Vorsätzen ist, zeigt die Befolgung ihrer Festlegung, „unverzüglich“eine Wahlrechtskommission für neue Regelungen ins Leben zu rufen. Auch vier Monate danach ist nichts passiert. Damit setzt sich die Taktik des Auf-die-lange-BankSchiebens fort. Schon in der vorangegangenen Wahlperiode hatte der damalige Bundestagspräsident Norbert Lammert frühzeitig die Fraktionen ermahnt, sich um ein neues Wahlgesetz zu kümmern, um eine Aufblähung des Bundestages zu verhindern. Sie schafften es nicht. Also schwoll der eigentlich nur 598 Mitglieder umfassende Bundestag auf 709 Mandatsträger an. So setzte sich Lammert-Nachfolger Wolfgang Schäuble das Ziel, bis etwa zur Mitte der Wahlperiode ein neues Wahlrecht hinzubekommen. Mehrfach lud er die Fraktionsspitzen zu sich, eine Kommission tagte und tagte, doch heraus kamen nur sich widersprechende Entwürfe von Opposition und Koalition.
Drei Ursachen bilden das Grundübel des Streits: Zum einen hat sich Deutschland für ein ohnehin nicht einfaches Mischsystem entschieden: In jedem Wahlkreis gilt das Mehrheitswahlrecht, für die gesamte Republik jedoch das Verhältniswahlrecht. Das hat das Verfassungsgericht dazu gebracht, derart differenzierte Vorgaben über die vertikale und horizontale Verrechnungssystematik zu machen, dass der Mechanismus höchst störanfällig und kaum noch verständlich ist. Und schließlich prallt jeder Reformwille gegen unterschiedliche Interessen. Die kleinen Parteien haben kaum oder keine Direktmandate und wollen diese zusammenstreichen, um selbst nicht zu viel „bluten“zu müssen. Die großen Parteien haben kaum oder keine Überhangmandate und wollen bei denen kürzen, um den Bundestag kleiner zu kriegen.
Es bräuchte also einen neuen Ansatz, mutige Ideen von außen. Genau das wollten Union und SPD sicherstellen, indem sie am 9. Oktober mit nur marginalen Veränderungen den Grundstein für eine grundlegende Reform in der nächsten Wahlperiode legten und sich gesetzlich verpflichteten, „unverzüglich“eine Reformkommission einzusetzen, die bis 30. Juni 2023 Vorschläge vorlegen soll.
Aber das „Unverzüglich“lässt auf sich warten. Möglicherweise war die Arbeit der in Frage kommenden Fach-Abgeordneten eher davon geprägt, Kandidatenaufstellung und Wahlen selbst pandemiefest zu machen. „Derzeit befinden wir uns in der Abstimmung zur Vorbereitung eines Einsetzungsbeschlusses“, erläutert der zuständige Unions-Justiziar Ansgar Heveling. Druck kommt vom FDP-Wahlrechtsexperten Konstantin Kuhle: „Eine neue Reformkommission sollte zügig die Arbeit aufnehmen, um den Bundestag endlich wirksam zu verkleinern.“Die Bürger hätten „kein Verständnis dafür, dass der politische Betrieb nicht einmal fähig ist, sich selbst zu reformieren“.
FDP, Linke und Grüne haben am Montag den Klageweg beschritten, um das „grottenschlechte“Wahlrecht (Grünen-Parlamentsgeschäftsführerin Britta Haßelmann) auszuhebeln. Hauptkritikpunkt ist die unklare Formulierung zu Überhangmandaten.
Die Wahl sei durch die Klage nicht gefährdet, betont FDP-Parlamentsgeschäftsführer Marco Buschmann. Wenn Karlsruhe der Klage stattgebe, gelte erst mal wieder das alte Wahlrecht. Also dasjenige, das den Bundestag so aufgebläht hat. Nach Berechnungen von Haßelmann würde aber auch die reformierte Version bei der Umrechnung diverser Umfragen den Bundestag im Schnitt nur um 10,8 Mandate verkleinern.