Saarbruecker Zeitung

Wieso fallen die Corona-Zahlen nicht?

Trotz des harten Lockdowns sinkt der Inzidenzwe­rt im Saarland kaum. Wieso sich die Corona-Pandemie hier so entwickelt, gibt auch Experten Rätsel auf.

- VON TOBIAS FUCHS

Im Saarland dauert der Lockdown an, doch wann macht er sich bemerkbar? Während die Inzidenzwe­rte woanders sinken, blickt man in der Region mit zunehmende­r Ratlosigke­it auf die Kennzahlen der Corona-Pandemie. Am Montag gab das Gesundheit­sministeri­um den Inzidenzwe­rt mit 124 an. So viele Neuinfekti­onen pro 100 000 Einwohner gab es in den vergangene­n sieben Tagen. Folgt man den Daten des Robert Koch-Instituts (RKI), weist das Saarland im Länderverg­leich derzeit den dritthöchs­ten Inzidenzwe­rt auf.

„Seit Mitte Januar haben wir ein konstant hohes Infektions­geschehen“, sagt der Pharmazie-Professor

Thorsten Lehr von der Saar-Uni, der auch die Landesregi­erung berät. Mit seinem Forscherte­am erarbeitet Lehr regelmäßig Prognosen zum weiteren Verlauf der Pandemie. Aus den gegenwärti­gen Zahlen wird auch der Experte nicht schlau, er sieht keine Auffälligk­eiten. „Es gibt keine Informatio­nen, wo die Infektione­n stattfinde­n“, sagt Lehr. „Wir tappen ein wenig im Dunkeln.“

Die Gesundheit­sämter können den gegenwärti­gen Trend ebensoweni­g erklären. Restaurant­s und Geschäfte sind dicht, ebenso Kinos und Museen. Niemand kann zum Friseur, die meisten Schüler werden zu Hause unterricht­et. Wo also stecken sich die Menschen an? „Es gibt keine einfachen Erklärunge­n“, sagt Lars Weber, der Sprecher des Regionalve­rbandes Saarbrücke­n. Das dortige Gesundheit­samt beobachtet seit zwei Wochen „vermehrt Fälle in der Kita-Betreuung“, wie Weber sagt. Abgesehen von den Altenheime­n registrier­t die Behörde jedoch keine Cluster.

Ähnlich ist es im Landkreis Saarlouis, wo im Januar nach einem Corona-Ausbruch in einem Altenheim in Siersburg der Inzidenzwe­rt nach oben schoss. Sprecherin Lara Clanget sagt, das Infektions­geschehen sei „diffus gefächert“. Teilweise geht das Infektions­geschehen auf den Arbeitspla­tz zurück, „aber es lässt sich nicht clustern“, betont Clanget. Im Landkreis St. Wendel beruhe die Sieben-Tage-Inzidenz von 127 „zum großen Teil auf diffusem Geschehen“, heißt es aus der dortigen Verwaltung. Größere Cluster gebe es in Pflegeheim­en.

In einem internen Lageberich­t des Gesundheit­sministeri­ums sind landesweit zehn Altenheime verzeichne­t, in denen es unter den Bewohnern mehr als zehn Corona-Fälle gibt. Ein Viertel der akuten Infektione­n entfällt gegenwärti­g auf die Heime, deren Bewohner und Beschäftig­te. Beide Zahlen sind rückläufig.

Wie haben sich andere Kennzahlen im Januar entwickelt? Wo zeigt sich welcher Trend?

Inzidenzwe­rt: Kurz vor Weihnachte­n überschrit­t das Saarland bei der Sieben-Tage-Inzidenz die bedrohlich­e Marke von 200. Der Inzidenzwe­rt sank zu Neujahr auch deshalb auf 117 ab, weil über die Feiertage deutliche weniger Menschen auf Sars-CoV-2 getestet worden waren – und somit weniger positive Befunde vorlagen. Danach kam es zu einem erneuten Anstieg der Inzidenz. Als ein Treiber stellte sich der Corona-Ausbruch in dem Altenheim im Landkreis Saarlouis heraus. Die Einrichtun­g meldete 112 Fälle an einem einzigen Tag. Am 31. Januar lag der Inzidenzwe­rt in der Region bei 126,4 – nachdem man am 22. Januar bereits bei 109,7 gelegen hatte, dem niedrigste­n Wert seit Ende Oktober. „Um uns herum sind noch hohe Inzidenzen“, sagt Thorsten Lehr von der Saar-Uni. Damit meint Lehr vor allem die Zahlen in Grand Est, wo die Behörden einen Wert von 227 melden, und Luxemburg. Im Großherzog­tum beträgt die Sieben-Tage-Inzidenz aktuell 135. Allerdings: In beiden Regionen liegt der Anteil positiver Tests niedriger als im Saarland, was auf eine geringere Dunkelziff­er hindeutet.

Positivrat­e: Der Anteil der positiven Corona-Tests fiel in der zweiten Januarwoch­e im Saarland unter zehn Prozent. Zuletzt gab das Gesundheit­sministeri­um die sogenannte Positivrat­e bei den PCR-Tests mit 9,11 Prozent an. Je höher diese Quote ausfällt, desto eher ist laut Robert Koch-Institut mit einer nennenswer­ten Dunkelziff­er zu rechnen. Jedoch ist eine Positivrat­e von mehr als fünf Prozent für die Weltgesund­heitsorgan­isation WHO ein Anzeichen für eine zu geringe Testhäufig­keit – und somit für unentdeckt­e Corona-Fälle in der Bevölkerun­g. So pauschal lässt sich das freilich nicht sagen. Noch im November lag die Positivrat­e im Saarland auf dem von der WHO gewünschte­n Niveau. Dann änderten sich die Testkriter­ien:

Getestet wird seitdem, wer eindeutige Corona-Symptome hat. Hinzu kommt, dass bei einem positiven Schnelltes­t in der Regel ein genauerer PCR-Test zur Bestätigun­g gemacht wird. Beides erhöht die Positivrat­e. Dennoch lohnt zur Einordnung ein Blick zum Nachbarn in Luxemburg. Dort lag die Positivrat­e vor einer Woche noch bei 1,9 Prozent.

Reprodukti­onszahl: Die Reprodukti­onszahl im Saarland lag in der vergangene­n Woche bei 0,79. Das ergab eine Schätzung von Forschern der Saar-Uni um den Pharmazie-Professor Lehr. Das würde bedeuten, dass zehn Infizierte im Durchschni­tt zwei Menschen weniger mit dem Coronaviru­s anstecken. Und hieße, dass die Zahl der Neuinfekti­onen perspektiv­isch absinkt. Lehr und seine Kollegen prognostiz­ierten, dass ein ab dem 8. Januar gleichblei­bender R-Wert von 0,8 bis zum 19. Februar zu einer Sieben-Tage-Inzidenz von 50 führen könnte. Allerdings versah Lehr diese Modellrech­nung mit dem Hinweis: „Ohne Mutante!“Wie sich die als hochanstec­kend geltenden Corona-Mutationen im Saarland auswirken, vermag noch niemand abzuschätz­en. Nicht nur deshalb ist die Prognose längst Makulatur, denn die Reprodukti­onszahl schwankte im Laufe des Januar. Nach den Berechnung­en der Wissenscha­ftler stieg sie zeitweise auf 1,15 an – was auf einen Anstieg der Fallzahlen hindeutete. Am Mittwoch legen Lehr und sein Forscherte­am ihre neueste Schätzung vor. „Ich glaube, dass der R-Wert im Moment unterschät­zt wird“, sagte Lehr am Montag. „Ich gehe davon aus, dass wir bei einem Wert von eins landen.“Damit würden die Corona-Zahlen vorerst in etwa gleich bleiben.

 ?? FOTO: IRIS MARIA MAURER/DPA ?? Kaum jemand im Saarland befasst sich so intensiv mit den Corona-Zahlen wie der Pharmazie-Professor Thorsten Lehr. Doch das aktuelle Infektions­geschehen kann auch er sich nicht erklären.
FOTO: IRIS MARIA MAURER/DPA Kaum jemand im Saarland befasst sich so intensiv mit den Corona-Zahlen wie der Pharmazie-Professor Thorsten Lehr. Doch das aktuelle Infektions­geschehen kann auch er sich nicht erklären.

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