„Warum müssen wir uns rechtfertigen?“
Auch in der Krise finden an den Hochschulen Präsenzprüfungen statt. Das stößt bei einigen Studenten auf heftige Kritik. Sie fühlen sich gezwungen, sich rechtfertigen zu müssen, wenn sie Entscheidungen zu Gunsten ihrer Gesundheit einfordern.
Das letzte bisschen Essensduft wird vom steten Surren des Belüftungssystems nach außen befördert. Ein Mann räumt Teller beiseite, Wasser plätschert in Spülbecken, die Getränkeautomaten brummen leise vor sich hin. Das alles ist nicht wie sonst vom Stimmengeplapper Hunderter überlagert. Die Pandemie hat ihre Spuren in der Mensa der Saarbrücker Uni hinterlassen. Der Ort der Zusammenkunft ist fast verwaist. Mit der eines Waisenhauses vergleichbar ist die Funktion, die der Bau nun erfüllen muss. Er ist Zufluchtsort für Prüfungen, die in Präsenz geschrieben werden und gibt vor allem Raum. Raum für körperlichen Abstand.
„Willkommen zur Nachklausur“, begrüßt Yannick Ney die 45 Studenten, die ungeduldig vor dem Eingang der Uni-Mensa warten. Ney beaufsichtigt mit einem weiteren wissenschaftlichen Mitarbeiter den Nachtermin der Chemie-Klausur. Für viele der
Studenten sind es die ersten Klausuren, die sie an der Uni schreiben. Und nachdem das Studienjahr schon alles andere als normal war, ist auch die Prüfungszeit jetzt alles, nur nicht normal. „Angst habe ich nicht“, sagt Leon Barth, der Pharmazie im ersten Semester studiert. „Die Prüfungsvorbereitung unter diesen Umständen war schwierig“, sagt der 21-Jährige und meint: „In gefüllten Räumen sind Infektionen schon möglich. Es ist nicht wahrscheinlich, passieren kann aber immer etwas.“
Zeit für ausgiebigen Austausch über die Gefahren für die Gesundheit bleibt kaum. In kleinen Grüppchen geht es über die mit Klebeband bestimmten Routen und die mit Corona-Hygiene-Hinweisen beklebten Treppenstufen geradewegs in die Mensa. Jeder der Prüflinge bekommt einen Einzeltisch, die Masken werden fortwährend getragen. Ney verkündet, dass ab jetzt die Zwei-Stunden-Prüfungszeit läuft. Es geht los.
Lara Leibrock kann es nicht fassen. Die BWL-Studentin hat ihre Prüfungen noch vor sich, doch nicht die anstehenden Klausuren als solche bedrücken die Studentin. Was sie und eine Reihe ihrer Kommilitonen nicht loslässt, ist ein Gedanke: „Unsere Gesundheit steht auf dem Spiel. Alle Studenten, die Klausuren vor Ort schreiben, werden vor die Wahl gestellt. Entweder Gesundheit oder Bildung“, sagt die 20-Jährige.
Bis zu 700 Studenten schrieben in den Wirtschaftswissenschaften an der Universität des Saarlandes beispielsweise eine Klausur in Buchführung. Dass sie alle vor Ort schreiben müssen, ist für Leibrock und viele ihrer Kommilitonen unvorstellbar und unzumutbar. Sie wollen nicht vor die Wahl zwischen Gesundheit und Bildung gestellt werden, sie fordern die Wahl zwischen Präsenzklausur und Onlineklausur ein. Solche Klausuren, die entweder vor Ort oder online geschrieben werden, werden Hybridklausuren genannt.
Doch zumindest in den Wirtschaftswissenschaften ist das vorerst nicht möglich, sagt Louise Schlenker. Ihr Prüfungsplan zeigt warum: die Klausuren finden in Präsenz statt, viele davon im Audimax der Uni. Aller Protest der Studierenden hat bislang nicht geholfen. Für Schlenker ist klar, weshalb die Studenten mit ihrem Anliegen auf Granit beißen: „Ich habe den Eindruck, man möchte sich das Leben einfach machen und an den Präsenzveranstaltungen festhalten“, sagt Schlenker, macht eine Pause, und sagt dann: „Dabei sitzen wir alle in einem Boot, in dem wir gemeinsam untergehen würden.“Rückblickend beschreibt sie die Prüfungsprozedur vom vergangenen Sommersemester als chaotisch: „Vor Beginn der Klausur standen viele in Gruppen zusammen, nicht jeder hat eine Maske getragen. Und dann so viele Menschen in einem Raum. Da hat man Angst.“Auf die Frage, ob die Uni nicht auch Fortschritte in Sachen Hygienekonzepte und Raumbelüftung gemacht habe, antwortet sie: „Dieses Chaos möchte ich nicht mehr erleben. Ich muss mich dafür rechtfertigen, mich zu Gunsten meiner Gesundheit zu entscheiden.“
Der Aussage, Studenten entstünden wegen der sogenannten Freischuss-Regelung keine Nachteile, sofern sie eine Klausur nicht mitschreiben, widerspricht etwa Vladislav Melnik. Melnik ist im letzten Master-Semester seines Studiums. Und er ist gezwungen die Klausuren vor Ort mitzuschreiben. „Ich kann nicht acht Monate auf Nachprüfungen warten. Das kann ich mir nicht leisten. Ich muss im Februar schreiben und ich muss dafür meine Gesundheit aufs Spiel setzen“, sagt der BWL-Masterstudent.
Als er sich im Prüfungssekretariat über die Prüfungssituation informieren wollte, habe er keine zufriedenstellende Auskunft erhalten – nur den Hinweis, dass die bestehenden Hygienekonzepte ausreichend seien. „Ich bin sehr besorgt. Seit Februar letzten Jahres lebe ich mehr oder weniger in Isolation und meide Kontakte. Und jetzt muss ich mit vielen Anderen in einem Raum Klausur schreiben.“Deshalb sieht auch Melnik, die Lösung in Hybridklausuren und einer einheitlichen Regelung für die Saar-Uni. Momentan ist der 26-Jährige vor allem verunsichert, gar verzweifelt, wie er sagt: „Es kommt mir vor, als wäre unser Anliegen allen egal.“
Auch Lukas Strobel ist enttäuscht. „Auf diejenigen, die sich um ihre Gesundheit sorgen, wird nicht eingegangen“, sagt Strobel, der seinen Master in Informatik an der Saar-Uni macht. „Insbesondere für Studenten mit Vorerkrankungen und auf Spezialfälle müsste geachtet werden“, meint Strobel. Er möchte mehr Online-Klausuren.
Die Studenten haben weitere Argumente zusammengetragen, die ihrer Ansicht nach gegen Präsenzklausuren sprechen. Es beginnt mit der Anfahrt zur Uni: Viele Studenten kommen aus anderen Landesteilen Deutschlands oder aus Nachbarländern. Seien viele schon beim Anreisen einem Infektionsrisiko ausgesetzt, sei es in der Veranstaltung nochmals hoch. Die Studenten sehen auch die Gefahr, dass Kommilitonen die Klausur schreiben, obwohl sie leichte Krankheitssymptome aufweisen, da sich mit dem
Warten auf den Zweittermin ihre Studienzeit verlängern würde, viele sich dies aber finanziell nicht leisten könnten. Studiengänge, bei denen ausschließlich vor Ort geprüft wird, seien wegen der Präsenzpflicht gegenüber solchen mit Online-Prüfungen schlicht benachteiligt. Insgesamt werfen viele Kritiker der Uni kontraproduktives Verhalten vor, da Präsenzprüfungen mit mehreren Teilnehmern je Raum den Corona-Schutz-Regelungen der Politik widersprechen würden.
Dem widerspricht Professor Roland Brünken, Vizepräsident für Lehre und Studium der Saarbrücker Universität. Diese Form der Prüfung bleibe erlaubt. Brünken geht davon aus, dass die Hochschule in den besonders großen Fächern wie den Wirtschaftswissenschaften, aber auch Medizin, Psychologie, Informatik und Jura, um Präsenzprüfungen nicht herumkommen wird. Teilweise sei diese Form der Prüfung sogar in der Approbationsordnung festgelegt. Jede dieser Prüfungen müsse allerdings von der Fakultät bei der Uni-Leitung angemeldet werden, und das Hygienekonzept werde dann genau überprüft. In den Wirtschaftswissenschaften seien bis Ende Februar insgesamt 50 Klausuren aller Formate vorgesehen, die allesamt in Präsenzform abgehalten werden sollten. Es gebe bisher keine zugelassenen technischen Verfahren, um daran etwas zu ändern.
Die Hochschule für Technik und Wirtschaft (HTW) des Saarlandes setzt trotz Corona ebenfalls auf Präsenzprüfungen. Das Hochschulpräsidium begrüße es, wenn Präsenzprüfungen – soweit möglich – durch eine Alternative ersetzt werden. Das sei aber nicht bei allen Prüfungen möglich. Die Studienordnung der HTW beinhaltet eine Freischussregelung: Prüfungen, die nicht bestanden werden, werden demnach automatisch als Freiversuch gewertet. Für die Prüfungen in Präsenz hat die HTW in der Saarbrücker Congresshalle die beiden größten Säle in der Zeit vom 8. Februar bis 23. März gemietet. In jedem der Säle könnten sich maximal 150 Menschen zugleich coronakonform aufhalten. Die Prüflinge müssen während der gesamten Zeit Maske tragen.
„Studenten haben ein Anrecht darauf, geprüft zu werden“, erklärt Elias Friedrich, Ex-Vorsitzender des HTW-AStA. „Nicht alle Prüfungen sind auch online möglich. Deshalb war an der HTW die Überlegung: Bevor sich mit Online-Klausuren in unsicheres Fahrwasser begeben wird, ist es besser, Präsenzklausuren anzubieten“, erklärt Friedrich. „Ich wünsche mir, dass die Debatte fortgeführt wird.“Wie die Debatte sich entwickelt, hängt wiederum von der Entwicklung der Virus-Krise ab.
Lara Leibrock sieht die Wurzel des Problems woanders: „Wir halten uns an die Pandemie-Regeln und möchten, dass die Unis das auch tun. Warum müssen wir uns rechtfertigen?“
„So viele Menschen
in einem Raum. Da hat man Angst.“
Louise Schlenker
Studentin