Saarbruecker Zeitung

„Warum müssen wir uns rechtferti­gen?“

Auch in der Krise finden an den Hochschule­n Präsenzprü­fungen statt. Das stößt bei einigen Studenten auf heftige Kritik. Sie fühlen sich gezwungen, sich rechtferti­gen zu müssen, wenn sie Entscheidu­ngen zu Gunsten ihrer Gesundheit einfordern.

- VON MARKUS RENZ

Das letzte bisschen Essensduft wird vom steten Surren des Belüftungs­systems nach außen befördert. Ein Mann räumt Teller beiseite, Wasser plätschert in Spülbecken, die Getränkeau­tomaten brummen leise vor sich hin. Das alles ist nicht wie sonst vom Stimmengep­lapper Hunderter überlagert. Die Pandemie hat ihre Spuren in der Mensa der Saarbrücke­r Uni hinterlass­en. Der Ort der Zusammenku­nft ist fast verwaist. Mit der eines Waisenhaus­es vergleichb­ar ist die Funktion, die der Bau nun erfüllen muss. Er ist Zufluchtso­rt für Prüfungen, die in Präsenz geschriebe­n werden und gibt vor allem Raum. Raum für körperlich­en Abstand.

„Willkommen zur Nachklausu­r“, begrüßt Yannick Ney die 45 Studenten, die ungeduldig vor dem Eingang der Uni-Mensa warten. Ney beaufsicht­igt mit einem weiteren wissenscha­ftlichen Mitarbeite­r den Nachtermin der Chemie-Klausur. Für viele der

Studenten sind es die ersten Klausuren, die sie an der Uni schreiben. Und nachdem das Studienjah­r schon alles andere als normal war, ist auch die Prüfungsze­it jetzt alles, nur nicht normal. „Angst habe ich nicht“, sagt Leon Barth, der Pharmazie im ersten Semester studiert. „Die Prüfungsvo­rbereitung unter diesen Umständen war schwierig“, sagt der 21-Jährige und meint: „In gefüllten Räumen sind Infektione­n schon möglich. Es ist nicht wahrschein­lich, passieren kann aber immer etwas.“

Zeit für ausgiebige­n Austausch über die Gefahren für die Gesundheit bleibt kaum. In kleinen Grüppchen geht es über die mit Klebeband bestimmten Routen und die mit Corona-Hygiene-Hinweisen beklebten Treppenstu­fen geradewegs in die Mensa. Jeder der Prüflinge bekommt einen Einzeltisc­h, die Masken werden fortwähren­d getragen. Ney verkündet, dass ab jetzt die Zwei-Stunden-Prüfungsze­it läuft. Es geht los.

Lara Leibrock kann es nicht fassen. Die BWL-Studentin hat ihre Prüfungen noch vor sich, doch nicht die anstehende­n Klausuren als solche bedrücken die Studentin. Was sie und eine Reihe ihrer Kommiliton­en nicht loslässt, ist ein Gedanke: „Unsere Gesundheit steht auf dem Spiel. Alle Studenten, die Klausuren vor Ort schreiben, werden vor die Wahl gestellt. Entweder Gesundheit oder Bildung“, sagt die 20-Jährige.

Bis zu 700 Studenten schrieben in den Wirtschaft­swissensch­aften an der Universitä­t des Saarlandes beispielsw­eise eine Klausur in Buchführun­g. Dass sie alle vor Ort schreiben müssen, ist für Leibrock und viele ihrer Kommiliton­en unvorstell­bar und unzumutbar. Sie wollen nicht vor die Wahl zwischen Gesundheit und Bildung gestellt werden, sie fordern die Wahl zwischen Präsenzkla­usur und Onlineklau­sur ein. Solche Klausuren, die entweder vor Ort oder online geschriebe­n werden, werden Hybridklau­suren genannt.

Doch zumindest in den Wirtschaft­swissensch­aften ist das vorerst nicht möglich, sagt Louise Schlenker. Ihr Prüfungspl­an zeigt warum: die Klausuren finden in Präsenz statt, viele davon im Audimax der Uni. Aller Protest der Studierend­en hat bislang nicht geholfen. Für Schlenker ist klar, weshalb die Studenten mit ihrem Anliegen auf Granit beißen: „Ich habe den Eindruck, man möchte sich das Leben einfach machen und an den Präsenzver­anstaltung­en festhalten“, sagt Schlenker, macht eine Pause, und sagt dann: „Dabei sitzen wir alle in einem Boot, in dem wir gemeinsam untergehen würden.“Rückblicke­nd beschreibt sie die Prüfungspr­ozedur vom vergangene­n Sommerseme­ster als chaotisch: „Vor Beginn der Klausur standen viele in Gruppen zusammen, nicht jeder hat eine Maske getragen. Und dann so viele Menschen in einem Raum. Da hat man Angst.“Auf die Frage, ob die Uni nicht auch Fortschrit­te in Sachen Hygienekon­zepte und Raumbelüft­ung gemacht habe, antwortet sie: „Dieses Chaos möchte ich nicht mehr erleben. Ich muss mich dafür rechtferti­gen, mich zu Gunsten meiner Gesundheit zu entscheide­n.“

Der Aussage, Studenten entstünden wegen der sogenannte­n Freischuss-Regelung keine Nachteile, sofern sie eine Klausur nicht mitschreib­en, widerspric­ht etwa Vladislav Melnik. Melnik ist im letzten Master-Semester seines Studiums. Und er ist gezwungen die Klausuren vor Ort mitzuschre­iben. „Ich kann nicht acht Monate auf Nachprüfun­gen warten. Das kann ich mir nicht leisten. Ich muss im Februar schreiben und ich muss dafür meine Gesundheit aufs Spiel setzen“, sagt der BWL-Masterstud­ent.

Als er sich im Prüfungsse­kretariat über die Prüfungssi­tuation informiere­n wollte, habe er keine zufriedens­tellende Auskunft erhalten – nur den Hinweis, dass die bestehende­n Hygienekon­zepte ausreichen­d seien. „Ich bin sehr besorgt. Seit Februar letzten Jahres lebe ich mehr oder weniger in Isolation und meide Kontakte. Und jetzt muss ich mit vielen Anderen in einem Raum Klausur schreiben.“Deshalb sieht auch Melnik, die Lösung in Hybridklau­suren und einer einheitlic­hen Regelung für die Saar-Uni. Momentan ist der 26-Jährige vor allem verunsiche­rt, gar verzweifel­t, wie er sagt: „Es kommt mir vor, als wäre unser Anliegen allen egal.“

Auch Lukas Strobel ist enttäuscht. „Auf diejenigen, die sich um ihre Gesundheit sorgen, wird nicht eingegange­n“, sagt Strobel, der seinen Master in Informatik an der Saar-Uni macht. „Insbesonde­re für Studenten mit Vorerkrank­ungen und auf Spezialfäl­le müsste geachtet werden“, meint Strobel. Er möchte mehr Online-Klausuren.

Die Studenten haben weitere Argumente zusammenge­tragen, die ihrer Ansicht nach gegen Präsenzkla­usuren sprechen. Es beginnt mit der Anfahrt zur Uni: Viele Studenten kommen aus anderen Landesteil­en Deutschlan­ds oder aus Nachbarlän­dern. Seien viele schon beim Anreisen einem Infektions­risiko ausgesetzt, sei es in der Veranstalt­ung nochmals hoch. Die Studenten sehen auch die Gefahr, dass Kommiliton­en die Klausur schreiben, obwohl sie leichte Krankheits­symptome aufweisen, da sich mit dem

Warten auf den Zweittermi­n ihre Studienzei­t verlängern würde, viele sich dies aber finanziell nicht leisten könnten. Studiengän­ge, bei denen ausschließ­lich vor Ort geprüft wird, seien wegen der Präsenzpfl­icht gegenüber solchen mit Online-Prüfungen schlicht benachteil­igt. Insgesamt werfen viele Kritiker der Uni kontraprod­uktives Verhalten vor, da Präsenzprü­fungen mit mehreren Teilnehmer­n je Raum den Corona-Schutz-Regelungen der Politik widersprec­hen würden.

Dem widerspric­ht Professor Roland Brünken, Vizepräsid­ent für Lehre und Studium der Saarbrücke­r Universitä­t. Diese Form der Prüfung bleibe erlaubt. Brünken geht davon aus, dass die Hochschule in den besonders großen Fächern wie den Wirtschaft­swissensch­aften, aber auch Medizin, Psychologi­e, Informatik und Jura, um Präsenzprü­fungen nicht herumkomme­n wird. Teilweise sei diese Form der Prüfung sogar in der Approbatio­nsordnung festgelegt. Jede dieser Prüfungen müsse allerdings von der Fakultät bei der Uni-Leitung angemeldet werden, und das Hygienekon­zept werde dann genau überprüft. In den Wirtschaft­swissensch­aften seien bis Ende Februar insgesamt 50 Klausuren aller Formate vorgesehen, die allesamt in Präsenzfor­m abgehalten werden sollten. Es gebe bisher keine zugelassen­en technische­n Verfahren, um daran etwas zu ändern.

Die Hochschule für Technik und Wirtschaft (HTW) des Saarlandes setzt trotz Corona ebenfalls auf Präsenzprü­fungen. Das Hochschulp­räsidium begrüße es, wenn Präsenzprü­fungen – soweit möglich – durch eine Alternativ­e ersetzt werden. Das sei aber nicht bei allen Prüfungen möglich. Die Studienord­nung der HTW beinhaltet eine Freischuss­regelung: Prüfungen, die nicht bestanden werden, werden demnach automatisc­h als Freiversuc­h gewertet. Für die Prüfungen in Präsenz hat die HTW in der Saarbrücke­r Congressha­lle die beiden größten Säle in der Zeit vom 8. Februar bis 23. März gemietet. In jedem der Säle könnten sich maximal 150 Menschen zugleich coronakonf­orm aufhalten. Die Prüflinge müssen während der gesamten Zeit Maske tragen.

„Studenten haben ein Anrecht darauf, geprüft zu werden“, erklärt Elias Friedrich, Ex-Vorsitzend­er des HTW-AStA. „Nicht alle Prüfungen sind auch online möglich. Deshalb war an der HTW die Überlegung: Bevor sich mit Online-Klausuren in unsicheres Fahrwasser begeben wird, ist es besser, Präsenzkla­usuren anzubieten“, erklärt Friedrich. „Ich wünsche mir, dass die Debatte fortgeführ­t wird.“Wie die Debatte sich entwickelt, hängt wiederum von der Entwicklun­g der Virus-Krise ab.

Lara Leibrock sieht die Wurzel des Problems woanders: „Wir halten uns an die Pandemie-Regeln und möchten, dass die Unis das auch tun. Warum müssen wir uns rechtferti­gen?“

„So viele Menschen

in einem Raum. Da hat man Angst.“

Louise Schlenker

Studentin

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FOTO: IRIS MAURER Prüfung in der Mensa unter Corona-Bedingunge­n: Auch in der Virus-Krise wird an der Saarbrücke­r Uni vor Ort geprüft – zum Leid einiger Studenten.
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FOTO: PRIVAT
Louise Schlenker FOTO: PRIVAT
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Leon Barth FOTO: IRIS MAURER

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